Wie spart man kein Wasser

Als vollberechtigter Bürger der Stadt Tel Aviv stieg ich eines Morgens aus meinem Bett, begab mich ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Dieser gab ein Geräusch von sich, das sich etwa so anhörte:

»Frrrrrskl.«

Wasser kam keines heraus. Ich stand ein Weilchen mit der Zahnbürste im Mund herum und wartete auf ein Wunder. Ein solches ereignete sich nicht. Nun stellte sich heraus, daß es in der ganzen Wohnung nicht einen einzigen Tropfen Wasser gab, außer in den Blumenvasen, deren Inhalt jedoch einen recht stengligen Geschmack aufwies. Die beste Ehefrau von allen erlitt einen leichten Nervenkoller: »Leben wir denn in der Wüste?« fragte sie mich, »will man uns umbringen?«

»Kann sein, oder auch nicht«, verteidigte ich die Behörden, »sie haben wohl das Wasser gesperrt.«

Die Morgenzeitungen gaben meiner gemäßigten Haltung recht. Die Wasserversorgungsbehörde hatte nämlich festgestellt, daß die Einwohner der Stadt Tel Aviv mit dem lebenswichtigen Naß überaus großzügig umgingen und pro Durchschnittsfamilie fast drei Kubikmeter täglich durch die Leitungen jagten. Daher wurde beschlossen, strenge Sparmaßnahmen einzuführen, indem man den Wasserdruck in den Versorgungsleitungen der Sündenstadt drastisch herabsetzte. Ich und die beste Ehefrau von allen hätten die Maßnahme durchaus mit bürgerlicher Lethargie hingenommen, wenn wir nur Parterre gewohnt hätten. Doch wir leben nun einmal in Himmelsnähe, im dritten Stock, wo lediglich das erwähnte Frrrrrskl ankam. »Die Methode der verbrannten Erde«, fauchte die Frau, die immer noch an der Zahnpasta kaute, »tu etwas, in Gottes Namen.«

Anfangs wollte ich eine einstweilige Verfügung gegen den Gesundheitsminister erwirken, doch dann beschloß ich, statt dessen unsere betagte Putzfrau in das bodennahe Paradies zu schicken, um dort den Freudenbecher zu füllen. Unsere Putzfrau nahm zwei Eimer und ließ sich in den zweiten Stock hinab, doch auch da tobte die städtische Dürre. Im ersten Stock, in der Wohnung des Parteibezirks-Sekretärs, entdeckte unsere Wasserträgerin einen stark tropfenden Hahn auf Kniehöhe, doch unter ihm lagen bereits Haus- und Putzfrauen aus allen benachbarten Häusern. Unsere betagte Putzfrau stieg die Treppe in den Keller hinab, und erst dort wurde sie fündig.

»Diese paar Tropfen sind nicht für dich«, beschloß die beste Ehefrau von allen, »damit wird aufgewischt.«

Ich sagte »schade«, während der Eimer um die Ecke verschwand. Zum Mittagessen gingen wir in ein tiefgelegenes Restaurant und hinter uns die Sintflut. Damit will ich sagen, daß wir kaum das tiefgelegene Restaurant wieder verlassen hatten, als wir ein gewaltiges Rauschen hörten. Es war Wasser, das sich aus allen Hähnen der Wohnung, die aufgedreht geblieben waren, in Strömen ergoß. Dieses Mal sorgten wir für den morgigen Tag vor. Die Badewanne wurde abgedichtet und bis zum Rand gefüllt, gleiches galt für alle Waschbecken, Töpfe, Schüsseln und Flaschen, und selbst das Plastik-Planschbecken unserer Tochter faßte leicht eine Reserve von rund sechs Kubikmetern. Mit dem herrlichen Gefühl, gute zwanzig Kubikmeter Wasser auf die hohe Kante gelegt zu haben, traten wir die Nachtruhe an.

Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Am folgenden Morgen sprudelten die Hähne reichlich Wasser. Wir atmeten auf, ließen das überflüssige Grundwasser aus der Badewanne, den Waschbecken, Schüsseln und dem Planschbecken der Tochter abfließen. Zur gleichen Zeit hörte man aus allen Wohnungen des Hauses ein gewaltiges Gluckern und Rauschen, das Erinnerungen an die Niagarafälle aufkommen ließ. Aber, wie gesagt, der Mensch denkt und Gott lenkt. Mittags ließ der Wasserdruck plötzlich nach und stieg erst zwei Stunden später wieder an. Sofort ließen wir Badewanne, Waschbecken und alles andere vollaufen. Abends kam der Druck wieder, und wir entleerten das Wasser. Morgens gab es kein Wasser… An dieser Stelle wurden die Wassersparmaßnahmen für die Bewohner Tel Avivs eingestellt, da bei einer Fortsetzung das gesamte Land innerhalb von zwei Tagen völlig trocken geblieben wäre. Ein recht erfolgreiches Unternehmen.

Ges. gesch.

Jossele und ich saßen im Café California und starrten trübe in unsere Mokkatassen. Es war spät in der Nacht oder früh am Morgen, ganz wie man’s nimmt. Jossele schob mißmutig die Tasse von sich.

»Warum«, fragte er, »warum erfindet man nicht endlich Kaffeetassen für Linkshänder? Mit dem Griff an der linken Seite der Tasse? Das wäre doch ganz einfach.«

»Du weißt, wie die Menschen sind«, erinnerte ich ihn.

»Gerade das Einfache interessiert sie nicht.«

»Seit fünftausend Jahren machen sie die gleichen langweiligen Trinkgefäße. Ob es ihnen jemals eingefallen wäre, den Griff innen anzubringen, damit das glatt gerundete Äußere nicht verunstaltet wird?«

»Niemals wäre ihnen das eingefallen. Niemals.«

»Immer nur die sture Routine.« Jossele hob die konventionell geformte Tasse widerwillig an die Lippen und nahm einen Schluck. »Keine Beziehung zu den Details, kein Gefühl für Nuancen. Denk nur an die Nähnadeln! Pro Stunde stechen sich auf der Welt mindestens hunderttausend Menschen in den Finger. Wenn die Fabrikanten sich entschließen könnten, Nadeln mit Ösen an beiden Enden zu erzeugen, würde viel weniger Blut fließen.«

»Richtig. Sie haben eben keine Phantasie. Darin stehen sie den Kammfabrikanten um nichts nach. Die erzeugen ja auch keine zahnlosen Kämme für Glatzköpfige.«

»Laß den Unsinn. Manchmal bist du wirklich kindisch!«

Ich verstummte. Wenn man mich kränkt, dann verstumme ich.

Jossele fuhr fort, mich zurechtzuweisen:

»Du hast nichts als dummes Zeug im Kopf, während ich über ernste, praktische Dinge spreche. Zum Beispiel, weil wir schon bei Kämmen sind: Haarschuppen aus Plastik. In handlichen Cellophansäckchen. Selbst der Ungeschickteste kann sie sich über den Kopf streuen.«

»Sie werden nie wie die echten aussehen«, sagte ich bockig.

»Ich garantiere dir, daß man nicht einmal durchs Vergrößerungsglas einen Unterschied merkt. Wir leben in einer Zeit, in der neues Material neuen Zwecken dienstbar gemacht wird. Hüte aus Glas, zum Beispiel.«

»Wozu soll ein Hut aus Glas gut sein?«

»Wenn man ihn fallen läßt, braucht man sich nicht nach ihm zu bücken.«

Das klang logisch. Ich mußte zugeben, daß die Menschheit Fortschritte macht.

»Und was«, fragte ich, »Hieltest du von einem Geschirrschrank, der auch oben vier Füße hat?«

Jossele sah mich überrascht an. Das hatte er mir nicht zugetraut.

»Ich verstehe«, nickte er anerkennend. »Wenn der Schrank oben staubig wird, dreht man ihn einfach um. Überhaupt gibt es im Haushalt noch viel zu verbessern. Was mir zum Beispiel schon seit Jahren fehlt, sind runde Taschentücher!«

»Die man nicht falten muß?«

»Eben. Nur zusammenknüllen.«

»Auch ich denke über Neuerungen an Kleidungsstücken nach.«

»Nun?«

»An eine Art elektronisches Miniaturinstrument für den eleganten Herrn. Ein Verkehrslicht mit besonderer Berücksichtigung der Hose. Wenn ein Toilettefehler entsteht, blinkt ein rotes Licht auf, das zur Sicherheit von einem leisen Summton begleitet wird.«

»Zu kompliziert.« Jossele schüttelte den Kopf. »Deshalb konnte ich ja auch der Kuckucksfalle nichts abgewinnen. Du erinnerst dich: Man wollte sie an den Kuckucksuhren anbringen, oberhalb der Klappe, aus der alle Stunden der Kuckuck herauskommt. Und im gleichen Augenblick, in dem er seinen idiotischen Kuckucksruf ausstoßen will, fällt ihm von oben ein Hammer auf den Kopf. Zu kompliziert.«

»Dir würde wohl die Erfindung des berühmten Agronomen Mitschurin besser zusagen?«

»Die wäre?«

»Eine Kreuzung von Wassermelonen mit Fliegen.«

»Damit sich die Kerne von selbst entfernen, ich weiß. Ein alter Witz. Wenn schon kreuzen, dann Maiskolben mit Schreibmaschinen. Sobald man eine Kornreihe zu Ende genagt hat, ertönt ein Klingelsignal, der Kolben rutscht automatisch zurück, und man kann die nächste Reihe anknabbern.«

»Nicht schlecht.«

»Jedenfalls zweckmäßig und bequem. Das ist das Wichtigste. In Amerika wurde eine landwirtschaftliche Maschine erfunden, die allerdings noch verbessert werden muß, weil sie zuviel Raum einnimmt. Sie pflanzt Kartoffeln, bewässert sie, erntet sie ab, wäscht sie, kocht sie und ißt sie auf.«

»Ja, ja. Der Mensch wird allmählich überflüssig. Angeblich gibt es in Japan bereits einen Computer, mit dem man Schach spielen kann.«

»Dann würde ich mir gleich zwei kaufen«, sagte Jossele. »Die können miteinander spielen, und ich gehe ins Kino.«

»Gut«, sagte ich. »Gehen wir.«

Auch die Waschmaschine ist nur ein Mensch

Eines Tages unterrichtete mich die beste Ehefrau von allen, daß wir eine neue Waschmaschine brauchten, da die alte, offenbar unter dem Einfluß des mörderischen Klimas, den Dienst aufgekündigt hatte. Der Winter stand vor der Tür, und das bedeutete, daß die Waschmaschine jedes einzelne Wäschestück mindestens dreimal waschen müßte, da jeder Versuch, es durch Aufhängen im Freien zu trocknen, an den jeweils kurz darauf einsetzenden Regengüssen scheiterte. Und da der Winter heuer besonders regnerisch zu werden versprach, war es klar, daß nur eine neue, junge, kraftstrotzende und lebenslustige Waschmaschine sich gegen ihn behaupten könnte.

»Geh hin«, so sprach ich zu meinem Eheweib, »geh hin, Liebliche, und kaufe eine Waschmaschine. Aber wirklich nur eine, und von heimischer Erzeugung. So heimisch wie möglich.«

Die beste Ehefrau von allen ist zugleich eine der besten Einkäuferinnen, die ich kenne. Schon am nächsten Tag stand in einem Nebenraum unserer Küche, fröhlich summend, eine original hebräische Waschmaschine mit blitzblank poliertem Armaturenbrett, einer langen Kabelschnur und ausführlicher Gebrauchsanweisung. Es war Liebe aufs erste Waschen – der Reklameslogan hatte nicht gelogen. Unser Zauberwaschmaschinchen besorgte alles von selbst, Schäumen, Waschen und Trocknen. Wie ein Wesen mit menschlicher Vernunft.

Und genau davon handelt die folgende Geschichte. Am Mittag des zweiten Tages betrat die beste Ehefrau von allen mein Arbeitszimmer ohne anzuklopfen, was immer ein böses Zeichen ist. Und sagte:

»Ephraim, unsere Waschmaschine wandert.«

Ich folgte ihr zur Küche. Tatsächlich: der Apparat war soeben damit beschäftigt, die Wäsche zu schleudern und mittels der hierbei erfolgenden Drehbewegung den Raum zu verlassen. Wir konnten den kleinen Ausreißer noch ganz knapp vor Überschreiten der Schwelle aufhalten, brachten ihn durch einen Druck auf den grellroten Alarmknopf zum Stillstand und berieten die Sachlage.

Es zeigte sich, daß die Maschine nur dann ihren Standort veränderte, wenn das Trommelgehäuse des Trockenschleuderers seine unwahrscheinlich schnelle Rotationstätigkeit aufnahm. Dann lief zuerst ein Zittern durch den Waschkörper – und gleich darauf begann er, wie von einem geheimnisvollen inneren Drang getrieben, hopphopp daraufloszumarschieren. Na schön. Warum nicht. Unser Haus ist schließlich kein Gefängnis, und wenn Maschinchen marschieren will, dann soll es.

In einer der nächsten Nächte weckte uns das kreischende Geräusch gequälten Metalls aus Richtung Küche. Wir stürzten hinaus: das Dreirad unseres Söhnchens Amir lag zerschmettert unter der Maschine, die sich in irrem Tempo um ihre eigene Achse drehte. Amir seinerseits heulte mit durchdringender Lautstärke und schlug mit seinen kleinen Fäusten wild auf den Dreiradmörder ein: »Pfui, schlimmer Jonathan! Pfui!«

Jonathan, das muß ich erklärend hinzufügen, war der Name, den wir unserem Maschinchen seiner menschenähnlichen Intelligenz halber gegeben hatten.

»Jetzt ist es genug«, erklärte die Frau des Hauses. »Ich werde Jonathan fesseln.«

Und das tat sie denn auch mit einem rasch herbeigeholten Strick, dessen anderes Ende sie an die Wasserleitung band.

Ich hatte bei dem allen ein schlechtes Gefühl, hütete mich jedoch, etwas zu äußern. Jonathan gehörte zum Einflußbereich meiner Frau, und ich konnte ihr das Recht, ihn anzubinden, nicht streitig machen. Indessen möchte ich nicht verhehlen, daß es mich mit einiger Genugtuung erfüllte, als wir Jonathan am nächsten Morgen an der gegenüberliegenden Wand stehen sahen. Er hatte offenbar alle seine Kräfte angespannt, denn der Strick war gerissen.

Seine Vorgesetzte fesselte ihn zähneknirschend von neuem, diesmal mit einem längeren und dickeren Strick, dessen Ende sie um den Heißwasserspeicher schlang.

Das ohrenbetäubende Splittern, das sich bald darauf als Folge dieser Aktion einstellte, werde ich nie vergessen.

»Er zieht den Speicher hinter sich her!« flüsterte die entsetzte Küchenchefin, als wir am Tatort angelangt waren. Der penetrante Gasgeruch in der Küche bewog uns, auf künftige Fesselungen zu verzichten. Jonathans Abneigung gegen Stricke war nicht zu verkennen, und wir ließen ihn fortan ohne jede Behinderung seinen Waschgeschäften nachgehen. Irgendwie leuchtete es uns ein, daß er, vom Lande Israel hervorgebracht – eine Art Sabre –, über unbändigen Freiheitswillen verfügte. Wir waren beinahe stolz auf ihn.

Einmal allerdings, noch dazu an einem Samstag abend, an dem wir, wie immer, Freunde zum Nachtmahl empfingen, drang Jonathan ins Speisezimmer ein und belästigte unsere Gäste.

»Hinaus mit dir!« rief meine Frau ihm zu. »Marsch hinaus! Du weißt, wo du hingehörst!«

Das war natürlich lächerlich. So weit reichte Jonathans Intelligenz nun wieder nicht, daß er die menschliche Sprache verstanden hätte, jedenfalls schien es mir sicherer, ihn durch einen raschen Druck auf den Alarmknopf zum Stehen zu bringen, wo er stand.

Als unsere Gäste gegangen waren, startete ich Jonathan, um ihn auf seinen Platz zurückzuführen. Aber er schien uns die schlechte Behandlung von vorhin übelzunehmen und weigerte sich. Wir mußten ihn erst mit einigen Wäschestücken füttern, ehe er sich auf den Weg machte…

Amir hatte allmählich Freundschaft mit ihm geschlossen, bestieg ihn bei jeder Gelegenheit und ritt auf ihm, unter fröhlichen »Hü-hott« -Rufen, durch Haus und Garten.

Wir alle waren’s zufrieden. Jonathans Waschqualitäten blieben die alten, er war wirklich ein ausgezeichneter Wäscher und gar nicht wählerisch in bezug auf Waschpulver. Wir konnten uns nicht beklagen. Immerhin befiel mich ein arger Schrecken, als ich eines Abends, bei meiner Heimkehr, Jonathan mit gewaltigen Drehsprüngen auf mich zukommen sah. Ein paar Minuten später, und er hätte die Straße erreicht.

»Vielleicht«, sagte träumerisch die beste Ehefrau von allen, nachdem ich ihn endlich gebändigt hatte, »vielleicht könnten wir ihn bald einmal auf den Markt schicken. Wenn man ihm einen Einkaufszettel mitgibt .«

Sie meinte das nicht im Ernst. Aber es bewies, wieviel wir von Jonathan schon hielten. Wir hatten fast vergessen, daß er doch eigentlich als Waschmaschine gedacht war. Und daß er vieles tat, was zu tun einer Waschmaschine nicht oblag.

Ich beschloß, einen Spezialisten zu konsultieren. Er zeigte sich über meinen Bericht in keiner Weise erstaunt.

»Ja, das kennen wir«, sagte er. »Wenn sie schleudern, kommen sie gern ins Laufen. Meistens geschieht das, weil sie zuwenig Wäsche in der Trommel haben. Dadurch entsteht eine zentrifugale Gleichgewichtsstörung, von der die Maschine vorwärtsgetrieben wird. Geben Sie Jonathan mindestens vier Kilo Wäsche, und er wird brav seinen Platz halten.«

Meine Frau erwartete mich im Garten. Als ich ihr auseinandersetzte, daß es der Mangel an Schmutzwäsche war, der Jonathan zu zentrifugalem Amoklaufen trieb, erbleichte sie:

»Großer Gott! Gerade habe ich ihm zwei Kilo gegeben. Um die Hälfte zu wenig!«

Wir sausten zur Küche und blieben – was doch eigentlich Jonathans Sache gewesen wäre – wie angewurzelt stehen: Jonathan war verschwunden. Mitsamt seinem Kabel.

Noch während wir zur Straße hinausstürzten, riefen wir, so laut wir konnten, seinen Namen:

»Jonathan! Jonathan!«

Keine Spur von Jonathan.

Ich rannte von Haus zu Haus und fragte unsere Nachbarn, ob sie nicht vielleicht eine hebräisch sprechende Waschmaschine gesehen hätten, die sich stadtwärts bewegte. Alle antworteten mit einem bedauernden Kopfschütteln. Einer glaubte sich zu erinnern, daß so etwas Ähnliches vor dem Postamt gestanden sei, aber die Nachforschungen ergaben, daß es sich um einen Kühlschrank handelte, der falsch adressiert war. Nach langer, vergeblicher Suche machte ich mich niedergeschlagen auf den Heimweg. Wer weiß, vielleicht hatte in der Zwischenzeit ein Autobus den armen Kleinen überfahren, diesen städtischen Wagenlenkern ist ja alles zuzutrauen . Tränen stiegen mir in die Augen. Unser Jonathan, das freiheitsliebende Geschöpf des israelischen Industrie-Dschungels, hilflos preisgegeben den Gefahren der Großstadt und ihres wilden Verkehrs . wenn die Drehtrommel in seinem Gehäuse plötzlich aussetzt, kann er sich nicht mehr fortbewegen… muß mitten auf der Straße stehenbleiben .

»Er ist hier!« Mit diesem Jubelruf begrüßte mich die beste Ehefrau von allen. »Er ist zurückgekommen!«

Der Hergang ließ sich rekonstruieren: In einem unbewachten Augenblick war der kleine Dummkopf in den Korridor hinausgehoppelt und auf die Kellertüre zu, wo er unweigerlich zu Fall gekommen wäre. Aber da er im letzten Augenblick den Steckkontakt losriß, blieb ihm das erspart.

»Wir dürfen ihn nie mehr vernachlässigen!« entschied meine Frau. »Zieh sofort deine Unterwäsche aus! Alles!«

Seit diesem Tag wird Jonathan so lange vollgestopft, bis er mindestens viereinhalb Kilo in sich hat. Und damit kann er natürlich keine Ausflüge mehr machen. Er kann kaum noch atmen. Es kostet ihn merkliche Mühe, seine zum Platzen angefüllte Trommel in Bewegung zu setzen. Armer Kerl. Es ist eine Schande, was man ihm antut.

Gestern hat’s bei mir geschnappt. Als ich allein im Haus war, schlich ich zu Jonathan und erleichterte sein Inneres um gute zwei Kilo. Sofort begann es in ihm unternehmungslustig zu zucken, und nach einer kleinen Weile war es soweit, daß er sich, noch ein wenig ungelenk hüpfend, auf den Weg zu der hübschen italienischen Waschmaschine im gegenüberliegenden Haus machte, mit männlichem, tatendurstigem Brummen und Rumpeln, wie in der guten alten Zeit.

»Geh nur, mein Jonathan.« Ich streichelte seine Hüfte:

»Los!«

Was zur Freiheit geboren ist, soll man nicht knechten.

Auf dem Trockenen

Ich darf ruhig sagen, daß ich die himmlischen Gewalten immer respektiert habe. Jetzt aber fürchte ich sie. An jenem denkwürdigen Montag erwachten wir zu früher Stunde, sahen aus dem Fenster und riefen wie aus einem Mund:

»Endlich!«

Der Himmel erstrahlte in klarem, wolkenlosem Blau. Mit lobenswerter Behendigkeit sprangen die beste Ehefrau von allen und ihre Mutter aus den Betten und stürzten zum Wäschekorb, darin sich die Schmutzwäsche für Jonathan aufgehäuft hatte, Wäsche vieler verregneter Monate, in denen wir sie, weil wir sie nicht zum Trocknen aufhängen konnten, ungewaschen liegen lassen mußten. Ja mehr als das: wir mußten sie, als der Wäschekorb überquoll, an allerlei unpassenden Örtlichkeiten aufbewahren, unter den Betten, in Koffern, in Schreibtischladen.

Damit war’s nun endlich vorbei. Gattin und Schwiegermutter machten sich fröhlich trällernd an die Arbeit, und nach wenigen Stunden standen wir vor der erquickenden Aufgabe, rund eineinhalb Tonnen frisch gewaschener Wäsche in den Garten zu transportieren, wo wir sie an Leinen, Stricken, Drähten und Kabeln zum Trocknen aufhängten. Als wir damit fertig waren, begann es zu regnen. Wie war das möglich. Noch vor wenigen Minuten hatte sich ein reiner, azurblauer Himmel über uns gewölbt, nicht die kleinste Wolke ließ sich blicken – und jetzt regnete es. Es regnete nicht nur, es goß, es schüttete, es war stockfinster, und die dunklen Wolken aus den vier Ecken des Universums versammelten sich genau über unserem Garten. In rasender Hast rafften wir die Wäsche wieder zusammen, rannten mit den einzelnen Bündeln ins Haus zurück und deponierten sie in der Badewanne, wo wir alsbald eine Leiter zu Hilfe nehmen mußten, denn der Wäscheberg reichte bis zur Decke. Dann griffen wir erschöpft nach der Zeitung.

Die Wettervorhersage lautete: »In den Morgenstunden zeitweilig Bewölkung, die sich gegen Mittag aufklärt.«

Somit stand fest, daß Sturm und Regen mindestens drei Tage lang anhalten würden.

Wir hatten uns nicht getäuscht. Draußen fiel eintönig der Regen, drinnen begann der Gärungsprozeß unserer Wäsche in der Badewanne. Am Abend roch es im ganzen Haus nach Fusel und Friedhof. Da und dort an den Wänden tauchten die ersten grünlichen Schimmelpilze auf.

»So geht’s nicht weiter«, erklärte die beste Ehefrau von allen. »Die Wäsche muß getrocknet werden, bevor sie völlig verrottet.«

Wir zogen eine Drahtschnur durch das Wohnzimmer. Sie reichte von der Schnalle des rechten Fensters die Wand entlang zur Schlafzimmertür, schwang sich von dort zum Kronleuchter, glitt abwärts und über einige Gemälde zum venezianischen Wandspiegel, umging die Klubgarnitur, wandte sich scharf nach links und endete am entgegengesetzten Fenster. An einigen Stellen hingen die dicht nebeneinander aufgereihten Wäschestücke so tief herab, daß wir uns nur noch kriechend fortbewegen konnten, wobei wir sorgfältig darauf achten mußten, die zwecks Beschleunigung des Trocknungsprozesses installierten Hitzespender (Karbidlampen, Spirituskocher auf mittlerer Flamme usw.) nicht umzustoßen. Eine Fledermaus, so behauptete meine Schwiegermama, würde trotzdem ihren Weg zwischen den Wäscheleinen finden, denn sie besäße ein geheimnisvolles Orientierungsvermögen, eine Art urzeitliches Radar, das sie befähigte, allen Gegenständen auf ihrem Flugweg auszuweichen. Da ich keine Fledermaus bin, konnte ich diesen lichtvollen Belehrungen nur wenig Interesse abgewinnen und zog mich zurück.

Ungefähr um die vierte Nachmittagsstunde wurde das Haus von einem dumpf nachhallenden Knall erschüttert. Im Wohnzimmer bot sich uns ein wahrhaft chaotisches Bild. Die Drahtschnur war unter dem ihr aufgelasteten Übergewicht gerissen und die ganze Wäsche bedeckte den Boden. Zum Glück war sie noch feucht genug, um die dort aufgestellten Heizkörper zu ersticken.

Die beste Ehefrau von allen erwies sich wieder einmal als solche.

»Das werden wir gleich haben«, sagte sie mit heroisch zusammengebissenen Lippen.

Wir hatten es zwar nicht gleich, aber doch nach zwei Stunden. Mit vereinten Kräften, einschließlich der schwiegermütterlichen, verteilten wir die Wäschestücke über sämtliche Tische, Stühle, Fensterbretter und freischwebende Beleuchtungskörper. Erst als auf dem Fußboden wieder Platz war, brachen wir zusammen. Kaum lagen wir da, als es an der Tür klopfte.

Schwiegermama trippelte zum Fenster und lugte vorsichtig hinaus.

»Doktor Zelmanowitsch ist draußen«, flüsterte sie.

»Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs. Mit Frau.«

Wir erstarrten vor Schreck und Verlegenheit. Doktor Zelmanowitsch besucht uns durchschnittlich einmal in fünf Jahren und hält das für eine besondere Ehre, der man sich gewachsen zeigen muß. In einem Empfangsraum, der über und über mit feuchten Wäschestücken belegt ist, kann man sich jedoch keiner Ehre gewachsen zeigen.

Abermals faßte sich die beste Ehefrau von allen als erste: »Rasch hinaus mit dem Zeug! Mama wird mir helfen. Und du hältst den Besuch so lange an der Tür fest.«

Da ich der einzige Schriftsteller in der Familie bin und infolgedessen als erfindungsreicher Lügner angesehen werde, fiel diese Aufgabe selbstverständlich mir zu. Ich öffnete die Tür, begrüßte den Obersten Richter und seine Gattin ebenso herzlich wie ausdauernd, wies mit großen Gebärden auf die exquisite stilistische Gestaltung unseres Vorzimmers hin und sprach mit möglichst lauter Stimme, um die Geräusche des drinnen sich abwickelnden Wäschetransports zu übertönen. Nach einer Weile äußerte Frau Zelmanowitsch das Verlangen, sich niederzusetzen. Zum Glück hörte ich gleich darauf das verabredete Hustensignal meiner Frau, so daß ich unsere Gäste weiterführen konnte.

Wir nahmen im halbwegs restaurierten Wohnzimmer Platz, und während meine Schwiegermutter die fällige Erkundigung einzog, ob Tee, Kaffee oder Kakao gewünscht werde, flüsterte mir meine Frau in einigen Stichworten den Situationsbericht ins Ohr: Sie hätte die Wäsche im Nebenzimmer verstaut, natürlich ohne sie auswinden zu können, dazu reichte die Zeit nicht mehr, aber Hauptsache, das Zeug war draußen. Die Konversation wollte nicht recht in Fluß kommen. Es herrschte Stille, die plötzlich von einem sonderbaren Geräusch unterbrochen wurde. Das Geräusch hielt an. Wie sich herausstellte, kam es von Frau Zelmanowitsch’ Zähnen, welche klapperten.

»Es ist ein w-w-wenig kühl in diesem Z-z-zimmer«, brachte sie mühsam hervor und erhob sich. Auf den unteren Partien ihres Kleides war ein großer dunkler Fleck zu sehen, der nach oben hin etwas heller wurde. Auch der übrigen Insassen des Zimmers hatte sich ein leichtes Zittern bemächtigt. Ich selbst machte keine Ausnahme.

»Der Feuchtigkeitsgehalt Ihres Hauses scheint außergewöhnlich hoch zu sein«, bemerkte Doktor Zelmanowitsch und nieste mehrmals.

Während ich ihm noch zu widersprechen versuchte, geschah etwas Fürchterliches:

Aus dem Nebenzimmer kam unverkennbares Wasser herbeigerieselt, zunächst nur fadendünn, dann immer breiter, bis es sich als kleines Bächlein über den Teppich ergoß.

Doktor Zelmanowitsch, einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten unseres Landes, stand auf, um sich zu verabschieden. Seine Frau hatte sich ja schon früher erhoben. »Bleiben Sie doch noch ein Weilchen«, stotterte die beste Ehefrau von allen und watete zur Tür, um unsere Gäste aufzuhalten. Aber sie ließen sich nicht. Sie gingen. Sie gingen ohne Gruß. Und sie werden den Fünfjahresdurchschnitt ihrer Besuche in Hinkunft wohl noch weiter reduzieren. Wir Zurückgebliebenen stemmten uns der andrängenden Flut entgegen und brachten sie mit Hilfe wasserundurchlässiger Möbelstücke zum Stillstand. Aber wie sollten wir sie beseitigen?

Da kam mir der rettende Einfall. Ich holte die Wäschestücke aus dem Nebenzimmer herbei, tränkte sie mit dem angestauten Wasser, trug die vollgesogenen Stücke in den Garten und hängte sie, des Regens nicht achtend, über die dort aufgespannten Leinen, Drähte und Kabel. Früher oder später muß ja der Regen aufhören und die Sonne wieder hervorkommen. Dann wird die Wäsche trocknen. Und dann nehmen wir sie herunter und verbrennen sie.

Im Wunderland

Ich schlenderte die Hauptstraße entlang und fand mich plötzlich inmitten eines kleinen Menschenauflaufs, der sich um einen Verkaufsstand drängte. Im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand ein stämmiger junger Mann, redegewandt und sonnengebräunt, der ein fleckiges Tuch vor den Augen seiner Zuschauer herumschwenkte und dazu in atemberaubendem Tempo herunterleierte: »… die liebe Frau Gemahlin schreit, tobt, droht mit Scheidung: >Schämst du dich nicht, du Schmutzfink, du hast schon wieder einen Fleck auf der Hose, dem Hemd, dem Pyjama oder sonst wo!<, aber das soll kein Problem mehr sein, lieber Ehegatte, du nimmst ganz einfach Dr. Finkelsteins Wundertinktur direkt aus Amerika, zum ersten Mal auch bei uns erhältlich, tust ein kleines Quentchen auf den Fleck, kurz mit klarem Wasser durchspülen und die liebe Frau Gemahlin hört schlagartig auf zu schimpfen, hört auf zu schreien, hört auf zu toben, denn der Fleck ist wie vom Erdboden verschwunden, die liebe Gattin ist besänftigt, küßt ihren makellosen Gatten und die Ehe ist wieder einmal gerettet, die Ehe blüht, die Ehe gedeiht…«

So sprach der gebräunte Sprachjongleur, während er tatsächlich vor den Augen der atemberaubten Menge ein Wunder wirkte: er tauchte das fleckige Tuch zunächst in eine Lauge, dann in Benzin, dann in Zitronensaft, zuletzt in Soda-Bikarbonat – und nichts geschah. Erst als er das Tuch mit Dr. Finkelsteins Wundertinktur aus Amerika bestrich und in klares Wasser tauchte, war der Fleck verschwunden, war der Fleck hinweg, war der Fleck nicht mehr zu sehn .

»Daher«, informierte uns der junge Mann, »wenn die liebe Frau Gemahlin schreit, tobt und mit Scheidung droht, nicht verzagen, der gute Gatte nimmt ein Quentchen von Dr. Finkelstein aus Amerika, bekommt einen Kuß, und das alles nur für ein paar lumpige Groschen, nicht teurer als ein Dutzend Salzmandeln, das muß Ihnen die Ehe wert sein, meine Damen und Herren, dazu drei Jahre Garantie…«

Natürlich wußte ich sofort, daß mir ein gütiges Geschick den sonnengebräunten Redekünstler über den Weg geschickt haben mußte. Ich erstand auf der Stelle fünf Portionen der Wundertinktur einschließlich fünf Gebrauchsanweisungen, die Dr. Finkelstein aus Amerika handsigniert hatte. Ich eilte heimwärts, goß sofort eine Büchse Schmieröl über unser bestes Damasttischtuch und die liebe Frau Gemahlin schreit, tobt, droht mit Scheidung, aber nicht verzagen, Weib, ich gebe nur ein Quentchen von Dr. Finkelsteins Wundertinktur direkt aus Amerika auf den Fleck, kurz mit klarem Wasser durchspülen, und der Fleck ist wie neu, der Fleck überstrahlt alles, der Fleck bleibt . Dann erst fiel mir ein, daß die Wundertinktur vermutlich nur eine ganz bestimmte Spezies von Wunderflecken beseitigen kann, und daß der Wunderfleck sicherlich ebenfalls von Dr. Finkelstein aus Amerika erfunden wurde. Ich eilte zurück zur Hauptstraße, aber der Sonnengebräunte hatte sich vermutlich mit seiner Wundertinktur bestrichen, denn er war spurlos verschwunden. Sollte er dies lesen, dann ersuche ich ihn hiermit, mir fünf Portionen Wunderflecken zuzusenden.

Per Eilpost.

Das alles spielt sich auf der Straße ab, meine Damen und Herren, auf öffentlichen Verkehrswegen, nicht auf der Bühne eines Theaters. Und jetzt nähern wir uns einem zweiten Straßenverkäufer, der soeben begonnen hat, seine garantiert unzerbrechlichen Wunderteller anzupreisen. Die Wunderteller sind auf einem zusammenlegbaren Tisch zur Schau gestellt, das ist wichtig für den Fall, daß ein Polizist auftaucht; dann legt der Verkäufer im Hui den Tisch zusammen und läßt die Wunderteller in einem Wundersack verschwinden und verschwindet selbst. Jetzt aber ist er in voller Aktion, jetzt sprudelt es in pausenloser Suada aus ihm hervor:

»Der garantiert unzerbrechliche Wunderteller garantiert bruchfest splitterfest kratzfest ein wahres Wunder aus Amerika nicht aus gewöhnlichem Plastik nicht aus Spezialplastik nicht aus Superplastik sondern aus Superspezialplastik meine Damen und Herren Sie können auf diesen Wunderteller mit der geballten Faust losdreschen. Sie können mit Ihren schweren Stiefeln auf ihm herumspringen natürlich nur die Herren die Damen haben ja keine schweren Stiefel nicht wahr die können statt dessen aus nächster Nähe in den Wunderteller hineinschießen aber es hilft nichts der Teller bleibt ein Teller ein Wunderteller aus Amerika ein amerikanisches Wunder Mutti wird wütend und knallt den Teller an die Wand hahaha die Wand zerbricht der Teller bleibt ganz hahaha Mutti bricht in ein fröhliches Gelächter aus und küßt Vati auf beide Wangen hahaha alles freut sich alles lacht und jetzt passen Sie auf meine Damen und Herren geben Sie acht und sehen Sie her jetzt nehme ich einen schweren Hammer kein Holz kein Papier kein doppelter Boden ein schwerer eiserner Hammer und diesen Hammer lasse ich jetzt auf den Teller niedersausen und der Wunderteller wird nicht zerbrechen wird nicht zersplittern wird keinen Kratzer zeigen geben Sie acht – «

Und er hebt den Hammer und läßt ihn niedersausen, und der Teller zersplittert in tausend Scherben, allerdings ohne Kratzer, und der Wunderverkäufer glotzt auf den Hammer in seiner Hand und auf die Scherben zu seinen Füßen, aber nach ein paar Schrecksekunden hat er sich gefaßt und hält den Hammer hoch und sprudelt los:

»Der amerikanische Wunderhammer der garantiert alles zerbricht und alles zerschmettert ein Wunderprodukt aus Amerika…«

Bügeln leicht gemacht

Dienstag nachmittags erkrankte unser Bügeleisen und verschied kurz danach. Da sämtliche Haushaltsutensilien, die auch nur im entferntesten mit Elektrizität zu tun haben, meinem Ressort unterstehen, machte ich mich auf den Weg zu unserem Elektrogeschäft. Der Besitzer bediente mich persönlich. Er schleppte eine Anzahl von Bügeleisen in den verschiedensten Farbschattierungen herbei. Gleichzeitig versicherte er mir mit patriotischem Stolz, er führe nur einheimische Ware, denn diese sei robuster in der Ausführung und daher weit zuverlässiger als der ganze importierte Schrott. Ich wählte ein zinnoberrotes Modell und fragte, ob ich es ausprobieren könne. Der Fachmann meinte, daß dies eigentlich nicht nötig sei, da das Bügeleisen bereits im Werk geprüft wurde. Aber wenn mir so viel daran läge, hätte er nichts gegen eine kurze Vorführung. Er tat den Stecker in die Dose und sagte: »Nun, was habe ich Ihnen gesagt? Ich würde niemals etwas verkaufen, das nicht hundertprozentig .«

In diesem Augenblick gab das rote Ding ein seltsames Geräusch von sich, das an das Knurren eines jungen Hundes erinnerte. Gleich darauf entwich ihm eine Rauchwolke und das Bügeleisen begann zu donnern und zu blitzen. Mein Patriot warf die stinkende Leiche hinter die Ladentheke:

»Jetzt bin ich schon dreißig Jahre lang in diesem Gewerbe, aber so etwas ist mir noch nie passiert«, entschuldigte er sich und steckte ein grünes Bügeleisen an. »Dieses ist sicherlich in Ordnung.«

Wir warteten fünfundzwanzig Minuten lang und tatsächlich, es rauchte nicht und stank nicht. Kein Blitz, kein Donner. Es wurde auch nicht heiß. Nicht einmal lauwarm. Es blieb eiskalt und teilnahmslos, sozusagen mausetot. Der Elektrofachmann schenkte mir einen vorwurfsvollen Blick, warf das grüne Eisen dem roten nach und versuchte sich an einem rosafarbenen.

»Ich muß schon sagen, Sie sind ein wenig wählerisch, mein Herr«, bemerkte er bitter. »Aber dieses hier wird zweifellos…«

Das Rosafarbene begann wie eine Zeitbombe zu ticken. Wir warfen uns blitzschnell auf den Boden, steckten die Finger in die Ohren und waren auf das Schlimmste gefaßt. Nach einer knappen Minute ertönte ein lauter Knall, und das einheimische Qualitätsprodukt gab seinen Geist auf.

Ein viertes Exemplar war an der Reihe, blütenweiß und jungfräulich. Es stank und keuchte. Dann griff der Fachmann nach einem himmelblauen Bügeleisen und stellte es vor mich hin, ohne es anzustecken.

»Dieses hier ist ganz sicher in Ordnung«, zischte er mich an. »Es besitzt eine gültige Fabriksgarantie. Nehmen Sie es oder nicht?«

Ich murmelte irgend etwas von einem Versuch. Da brüllte mich der Fachmann an:

»Das hier ist ein Elektrogeschäft, mein Herr, und keine öffentliche Versuchsanstalt! Wenn Sie nicht die Absicht haben, etwas zu kaufen, warum vergeuden Sie dann meine Zeit?«

Er warf mich kurzerhand hinaus. Draußen hörte ich, wie er mir nachrief:

»Kommen Sie mir bloß nicht wieder! Von Ihnen lasse ich mich nicht mehr schikanieren!«

Als uns der Strom gesperrt wurde

Das Bügeleisen war aber nur eine der tiefgreifenden Erfahrungen, die wir mit der Energiequelle Strom machten. Vor vielen Jahren, am Höhepunkt der weltweiten Energiekrise, ging uns das Stromproblem an den Lebensnerv, sprich den Magennerv. Damals, als die israelische Regierung zu Stromsparmaßnahmen aufgerufen hatte, die vor allem das Kochen auf elektrischen Herden betrafen. Längst nämlich hatten die israelischen Hausfrauen ihre Gasherde aus der Pionierzeit durch elektrische Platten ersetzt, auf denen sie jetzt nicht kochen sollten, es aber naturgemäß weiterhin heimlich taten. Und da schlug die Staatsgewalt zu. Es war, ich erinnere mich genau, an einem Mittwoch, als in unserer Straße ein in Khaki gekleideter Mann erschien und sich den Stromzählern des Hauses Nr. 4 näherte. Der Zähler von Frau Schapira beeindruckte ihn so sehr, daß er den Strom sofort sperrte. Frau Schapira stand ohne Elektrizität da und mußte viele Male die Korridore der Amtsräume durchwandern, wo der elektrische Strom verwaltet wird, mußte an zahllose Türen klopfen und vor zahllosen Amtstischen ihren Text aufsagen, ehe es ihr gelang, die Regierung mit Hilfe eines ärztlichen Zeugnisses davon zu überzeugen, daß sie in jener schicksalsschweren Stunde nur deshalb elektrisch gekocht hatte, weil sie andernfalls gestorben wäre. Erst dann bekam sie ihren elektrischen Strom wieder zurückgeschaltet.

Als sich herumsprach, daß die Verwendung verbotener Elektrizität eine bittstellerische Tätigkeit von mehreren Tagen nach sich zöge, bemächtigte sich der Hausfrauen große Erregung. Sie beriefen eine vertrauliche Sitzung ein und beschlossen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einer Wiederholung des Falles Schapira vorzubeugen. Die Kinder aller in Betracht kommenden Häuser wurden angewiesen, beim Herannahen eines in Khaki gekleideten Fremden sofort und in voller Stärke das Fliegeralarm-Signal nachzuahmen. Ihnen machte es Spaß, und die Mütter waren gewarnt.

Die junge Bürgerwehr bezog Stellung und paßte scharf auf. Dennoch gelang es der Exekutive, hindurchzuschlüpfen, allerdings nur dank einer Kriegslist: Ein Zittergreis in schwarzem Anzug passierte die gestaffelten Abwehrformationen, richtete sich vor dem Haus Nr. 5 zu voller Größe auf und nahm, wie Augenzeugen berichteten, drei Stufen auf einmal. Zu spät wurden die Verteidiger gewahr, daß man sie getäuscht hatte. Zu spät brachen sie in ihr lautstarkes Warnsignal aus. Frau Bajit, eine Bewohnerin des Hauses Nr. 5, fiel dem tückischen Vorgehen der Regierung zum Opfer. Sie brauchte vier Tage und drei Nächte, ehe sie nachweisen konnte, daß nicht sie, sondern ihre Schwägerin, die sich im Besitz der belgischen Staatsbürgerschaft und folglich in Unkenntnis der israelischen Energiesparvorschriften befand, vom Strom widerrechtlich Gebrauch gemacht hatte. Auf Grund einer Bescheinigung des belgischen Generalkonsuls nahm man von einer Geldstrafe Abstand und schaltete den Strom wieder ein. Dieser zweite Überfall hatte den Hausfrauen die ganze Schwere der Situation vor Augen geführt. Den Jungbrigaden wurden neue Anweisungen erteilt. Sie sollten fortan beim Auftauchen jeder fremden Gestalt zwischen acht und fünfzig Jahren, ungeachtet ihrer Kleidung, sofort Signal geben. Um den Feind zu verwirren, wurde auch das Signal gewechselt, und zwar vom Fliegeralarm zu unserer Nationalhymne.

Die Regierung überlistete uns abermals. Gegen Ende der Woche drang eine brillentragende Weibsperson in die Befestigungsanlagen ein, nahm Richtung auf das Haus Nr. 4, warf einen kurzen Blick auf den Stromzähler und stürmte in die Wohnung des Ehepaares Malensky.

Diesmal lag der Fall für die Exekutive nicht ganz so günstig.

Frau Malensky hatte zwar elektrisch gekocht, aber sie verwendete dazu ein umgekehrtes Bügeleisen.

Dennoch belegte man unsere Nachbarin mit einer eintägigen Bittstellerei und mit dem ausdrücklichen Verbot, ihre Kochgeräte zu bügeln.

Am folgenden Sonntag errang die Regierung einen durchschlagenden Erfolg.

Gegen zehn Uhr vormittags stimmten die Kinder plötzlich die Nationalhymne an, die Hausfrauen traten prompt in Aktion, zogen sämtliche Stecker aus den Kontakten und verbargen die elektrischen Kochplatten in verschiedenen Winkeln ihrer Wohnungen. Dann stellten sie die Töpfe und Pfannen auf den Gasherd und begannen ihrerseits zu singen. Der Spion hatte sich die Wohnung von Frau Kalanijot in Nr. 7 ausgesucht, schnupperte ein wenig umher und war alsbald der brennenden Matratze im Schlafzimmer auf die Spur gekommen.

Frau Kalanijot wurde zu einer vollen Woche Bittstellerei verurteilt.

Und dann gerieten wir selbst in den Würgegriff des Schicksals.

Ich hatte immer geahnt, daß auch uns einmal die Stunde schlagen würde. Jetzt war es soweit. Wir saßen gerade beim Mittagessen, die beste Ehefrau von allen und ich, auf der elektrischen Herdplatte brutzelte es lustig – als plötzlich, mitten im besten Schmaus, dicht unter unserem Fenster die feierliche Weise der Nationalhymne erklang.

Wie sich nachher herausstellte, hatte der Elektrizitäts-Spion die Reihen unserer Verteidiger in der Verkleidung eines Postboten durchbrochen und sich direkt in unser Haus eingeschlichen. Dem aufgeweckten Söhnchen der Familie Malensky war es jedoch nicht entgangen, daß der vorgebliche Briefträger keine Tasche mit Briefen trug, sondern lediglich ein Notizbuch und einen Bleistift. Daraufhin hatte der pfiffige Kleine sofort die Nationalhymne angestimmt und uns gewarnt.

Das ermöglichte es mir, den elektrischen Stecker herauszuziehen, während der Feind den Hausflur durchquerte. Jetzt erklomm er die Stiegen. In diesem Augenblick überkam mich eine meiner genialen Inspirationen. Ich stürzte zum Gasherd, zündete ihn an, nahm die elektrische Kochplatte, stellte sie auf die Gasflamme und stellte die Pfanne auf die Platte. Erst als das geschehen war, gab ich der besten Ehefrau von allen das Zeichen, die Wohnungstür zu öffnen.

Der Regierungsvertreter kam hereingestürzt, stand im nächsten Augenblick auch schon in der Küche und griff nach der elektrischen Platte. »Aha! Sie ist heiß!«

»Was haben Sie erwartet?« sagte ich. »Sie steht ja auch auf einer Flamme, oder nicht?«

Der Mann schien ein wenig verwirrt, was ihn zu lautem Brüllen veranlaßte.

»Eine elektrische Platte auf einer Gasflamme? Sind sie verrückt?«

»Und wenn ich es wäre?« replizierte ich schlagfertig.

»Ist das vielleicht verboten?«

Ein paar Sekunden lang glotzte mich der Spion mit aufgerissenem Mund an, dann machte er kehrt und entfloh.

Einige Tage später wurde er auf eigenes Ersuchen in eine andere Abteilung versetzt. Er konnte es nicht verwinden, daß ein gewöhnlicher Bürger im elektrischen Kleinkrieg die Oberhand über die Behörde behalten hatte.

Telefonpremiere

Ich habe zu Hause ein Telefon. Ich habe ein Telefon zu Hause. Zu Hause habe ich ein Telefon. Ich kann’s mir gar nicht oft genug wiederholen. Ich bin noch ganz verrückt vor Freude darüber, daß ich zu Hause ein Telefon habe. Endlich ist es soweit. Jetzt brauche ich nicht mehr zu meinem widerwärtigen Wohnungsnachbarn zu gehen, um ihn anzuflehen, er möchte mich doch bitte noch ein Mal – ein letztes Mal, Ehrenwort – sein Telefon benützen lassen. Dieser entwürdigende Zustand ist zu Ende. Ich habe ein Telefon zu Hause. Ein eigens tadelloses, prächtiges Telefon. Niemand, nicht einmal ich, könnte die Ungeduld beschreiben, mit der ich auf den ersten Anruf wartete. Und dann kam er. Gestern kurz nach dem Mittagessen wurde ich durch ein gesundes, kräftiges Läuten aus meinem Nachmittagsschlaf geweckt, stolperte zum Telefon, nahm den Hörer ab und sagte:

»Ja.«

Das Telefon sagte:

»Weinreb. Wann kommen Sie?«

»Ich weiß noch nicht«, antwortete ich, »Wer spricht?«

»Weinreb.« Offenbar war das der Name des Anrufers.

»Wann kommen Sie?«

»Ich weiß es noch immer nicht. Mit wem wünschen Sie zu sprechen?«

»Was glauben Sie mit wem? Mit Amos Kaminski, natürlich.«

»Sie sind falsch verbunden. Hier Kishon.«

»Ausgeschlossen«, sagte Weinreb. »Welche Nummer haben Sie?«

Ich sagte ihm die Nummer.

»Richtig. Diese Nummer habe ich gewählt. Es ist die Nummer von Amos Kaminski. Wann kommen Sie?«

»Sie sind falsch verbunden.«

Ich wiederholte die Nummer.

»Stimmt«, wiederholte Weinreb. »Das ist Amos Kaminskis Nummer.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig sicher. Ich telefoniere jeden Tag mit ihm.«

»Ja, also dann… Dann sind Sie wahrscheinlich doch mit Kaminski verbunden.«

»Selbstverständlich. Wann kommen Sie?«

»Einen Augenblick. Ich muß meine Frau fragen.«

Ich legte den Hörer ab und ging zu meiner Frau ins Zimmer:

»Die Weinrebs wollen wissen, wann wir zu ihnen kommen.«

»Donnerstag abend«, antwortete meine Frau. »Aber erst nach dem Essen.«

Ich ging zum Telefon zurück, zum eigenen, tadellosen, prächtigen Telefon, nahm den Hörer auf und sagte:

»Paßt Ihnen Donnerstag abend?«

»Ausgezeichnet«, sagte Weinreb. Damit war das Gespräch beendet. Ich erzählte es meiner Frau mit allen Details. Sie behauptete steif und fest, daß ich nicht Amos Kaminski sei. Es war sehr verwirrend. »Wenn du mir nicht glaubst, dann ruf die Auskunft an«, sagte meine Frau. Ich rief die Auskunft an. Sie war besetzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DAS TELEFON, DEIN FREUND UND

HELFER

 

Ein vielversprechender Anfang

Nun hatte ich also ein Telefon. Zu Hause. Der gegenseitige Gewöhnungsprozeß begann ganz harmlos. Ich brauchte nämlich eine Bewilligung, und der Mann, an den ich mich zu wenden hatte, war Dr. Slutzky von der Abteilung Nahrungsmittelkonserven im Ministerium für Volksernährung. Das traf sich gut, weil Dr. Slutzkys Jüngster und mein Sohn Amir dieselbe Schule besuchen, so daß mein Gesuch eigentlich schon im voraus bewilligt war. Das Problem bestand lediglich darin, wie ich mit Dr. Slutzky persönlichen Kontakt aufnehmen sollte. Zu ihm ins Amt gehen und stundenlang in einer Schlange anstehen, bis man aufgerufen wird? Kommt nicht in Frage. Wozu hatte ich endlich ein Telefon zu Hause? Anruf ist besser als Aufruf, telefonieren besser als Zeit vergeuden. Was könnte nicht alles geschaffen werden in den vielen Stunden unproduktiven Schlange Stehens. Ich nahm den Hörer zur Hand.

Ich nahm den Hörer zur Hand, aber ich bekam keine Leitung. Ein sonderbares Geräusch klang an mein Ohr, eine Art Gurgeln, gluck-gluck-gluck. Wahrscheinlich ist das Netz überlastet.

Ich lege den Hörer wieder auf, warte eine Weile, nehme ihn wieder ab, aber das Sodawasser gluckst noch immer, und als die Flasche sich endlich leert, setzt große Stille ein. Ich lege auf, streichle den Hörer, sichere den Kontakt, hebe ab – nichts. Sollte sich das Telefon zu seinem Schöpfer, Mr. Graham Bell, versammelt haben? Nein, denn es wendet sich plötzlich an mich und sagt: »Krrr-krrr-krx«.

Und wieder nichts. Aber jetzt weiß ich wenigstens, daß noch Leben in ihm steckt.

Ich wähle ein paar Nummern, die mir gerade einfallen. Vergebliche Mühe. Ich versuche es mit vier Sechsern, rasch hintereinander – nichts. Sechs Vierer – ebenso. Ich lege den Hörer auf die Tischplatte und warte, bis ein Lebenszeichen aus ihm dringt. Es dringt keines. Ich lege den Hörer wieder auf die Gabel und wünsche ihm eine gute Nacht. Plötzlich läutet das Telefon.

Klar und deutlich. Ich hebe ab und habe eine Leitung. Ganz glatt, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.

Hocherfreut über die unvermutete Glätte, wähle ich die Nummer der Nahrungsmittelkonserven. Sie ist besetzt. Ich lege auf, gebe mir den Anschein, als ob ich etwas anderes zu tun hätte, ergreife plötzlich den Hörer und wähle. Besetzt. Bei meinen nächsten Versuchen bekomme ich das Besetztzeichen noch ehe ich gewählt habe. Ich bekomme es auch zwischendurch und hinterher.

Jetzt nehme ich meine Zuflucht zu härteren Erziehungsmethoden und versetze dem Instrument zwei saftige Schläge mit der flachen Hand. Sie erinnern mich an den liebenden Vater, dem die Züchtigung seines unfolgsamen Söhnchens größeren Schmerz bereitet als dem Söhnchen. Im übrigen habe ich nichts weiter erreicht, als daß sich das Telefon totstellt. Nun, solche Tricks ziehen bei mir nicht. Ich erhebe mich, gehe pfeifend im Zimmer auf und ab – und aus heiterem Himmel, ehe der Hörer sich dessen versieht, reiße ich ihn an mein Ohr. Er ist so überrascht, daß er mir eine Leitung gibt.

Vorsichtig wähle ich die Nummer, eine Ziffer nach der anderen, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Das Unglaubliche geschieht. Die Verbindung wird hergestellt, jemand hebt ab, eine weibliche Stimme meldet sich und sagt: »Firma Stern, Trikotagen.« Ich kann gerade noch eine Entschuldigung stammeln. Dann packt mich die Verzweiflung, leckt ihre Lippen, verlangt nach mehr. Zum Glück ist das Telefon in sein altes Schweigen verfallen. Vielleicht ohnmächtig geworden. Aus Überarbeitung.

Nach ein paar Minuten hat es sich erholt. Ich bekomme eine Leitung. Ich wähle die Nummer. Sie ist besetzt. Aber die Leitung bleibt offen. Und die Nummer bleibt besetzt. Da stimmt etwas nicht. Ich rufe die Auskunft an und muß zu meiner Verblüffung feststellen, daß auch die Auskunft besetzt ist. Beim nächstenmal höre ich statt des mir schon bekannten Sodawasser-Glucksens das Gurren einer Taube, beim drittenmal höre ich nichts, und beim viertenmal wage ich meinen Ohren nicht zu trauen: »Auskunft, Schalom«, sagt ein freundliches Fräulein.

Ich bitte um die Nummer der Nahrungsmittelkonservenabteilung im Ministerium für Volksernährung. Das Fräulein heißt mich warten. Ich warte. Es vergehen fünf Minuten. Es vergehen zehn Minuten. Im Hintergrund wird das Geräusch einer Schreibmaschine vernehmbar, das Geräusch weiblichen Lachens, das Geräusch strickender Nadeln. Fünfzehn Minuten. In einem jähen Ausbruch aufgestauter Pein brülle ich Unartikuliertes in die Muschel – und habe Erfolg. Jemand kommt an den Apparat. Diesmal ist es ein Mann. Was ich wünsche, fragt er. Die Nummer der Nahrungsmittelkonserven, sage ich. Warten Sie, sagt er. Ich warte. Nach drei Minuten erfolgt direkt an meinem Ohr eine fürchterliche Explosion, die in eine Serie von krrr-krrrkrrr übergeht. Ich lege auf.

Um die Zeit auszunützen, gehe ich in die Küche, fertige eine Sandwich an, schlafe ein wenig, dusche mich, rasiere mich und kehre erfrischt an die Arbeit zurück. Gleichmäßig nehme ich die unvermeidlichen Schicksalsschläge hin, das Glucksen, das Gurren, das krrr-krrr-krrr, streichle das Kabel, kitzle den Hörer, lege ihn halb auf, hebe ihn halb ab und warte geduldig, bis er mir das Zeichen gibt, daß eine Leitung frei ist. Dann betätige ich die Drehscheibe – und halleluja, vom anderen Ende des Drahts ertönt eine Stimme: »Firma Stern, Trikotagen.«

Möge ihr Lager in Flammen aufgehen. Ich weiß genau, daß ich die richtige Konservennummer gewählt hatte. Oder wäre es gar nicht die richtige? Die Auskunft ist besetzt. Als sie beim sechsten Versuch nicht mehr besetzt ist, hebt niemand ab. Nichts auf Erden ist so deprimierend wie eine endlich hergestellte Verbindung, welche einseitig bleibt. Also nochmals die bisher gewählte Nummer. Sie ist frei! Sie antwortet! Das heißt, ein Tonband antwortet:

»Die Nummer unserer Abteilung wurde geändert. Bitte notieren Sie die neue Nummer. Sie lautet-« Jawohl. Sie lautet ganz genauso wie die, die ich immer gewählt habe.

Hauptsache, daß es die richtige Nummer ist. Ich wähle sie und begegne eisigem Schweigen. Es gluckst nicht einmal.

Ein Blick auf die Uhr. Wie die Zeit vergeht… Eine kurze Erholungspause. Ein neuer Anlauf. Nein, diesmal ist die Nummer nicht besetzt. Ich höre das beseligende Verbindungssignal. So hebt doch endlich ab, um Himmels willen!

»Ordination Doktor Perez. Der Herr Doktor ist nicht zugegen. Wer spricht?«

Was geht das dich an, alte Hexe. Misch dich nicht in meine Konserven. Ende der Durchsage. Habe ich vielleicht doch eine falsche Nummer? Zurück zur Auskunft. Besetzt. Vorwärts zur Beschwerdestelle. Besetzt.

Ein letzter, garantiert letzter Versuch mit der gewohnten Nummer.

Und da – wirklich und wahrhaftig – noch lebt der alte jüdische Gott:

»Abteilung für Nahrungsmittelkonserven. Schalom.«

»Ich möchte Herrn Doktor Slutzky sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Sagen Sie ihm nur: wegen Amir.«

Krrr-krrr-krx.

»Hallo! Hallo!«

»Herr Doktor Perez ist nicht zugegen. Wer spricht?«

»Gehen Sie aus der Leitung, zum Teufel!«

»Gehen Sie selber!«

»Fällt mir nicht ein. Ich will mit Doktor Slutzky sprechen.«

»Der Herr Doktor ist nicht zugegen. Er wird-«

Rrrx-krrr-pschsch. Wieder eine Explosion. Schon die zweite. Aber auch sie nimmt ein Ende. Sie wird sogar von einer freien Leitung abgelöst, und ich kann die Konservennummer wählen. Sie ist besetzt. Natürlich ist sie besetzt. Durch meinen Anruf. Nur nicht auflegen. Nur die Verbindung nicht unterbrechen.

Wäre ich ein Telefon, dann würde ich jetzt in Ohnmacht fallen. Graue Schleier schwimmen vor meinen Augen, verdichten sich immer mehr. Ich muß die heiß ersehnte, endlich erreichte Verbindung aufgeben und die Unfallstation anrufen. Sie hat drei Nummern. Die erste ist besetzt. Die zweite ist besetzt. Die dritte hebt ab. Ich kann nur noch stöhnen:

»Hilfe! Kommen Sie rasch! Ich sterbe!«

»Bedaure, Sie sind falsch verbunden. Hier ist die Abteilung für Nahrungsmittelkonserven.«

»Gehen Sie aus der Lei – nein, n-e-i-n! Gehen Sie nicht! Bleiben Sie! Verbinden Sie mich mit Doktor Slutzky!«

»Augenblick.«

Lieber Gott, tu ein Wunder!

Der liebe Gott ist besetzt. Aus dem Hörer ertönt das Turteln einer Taube. Dann wird die Leitung unvermittelt frei. »Doktor Perez?« flüstere ich. »Hier spricht Amirs Vater.« Eine metallische Frauenstimme antwortet: »Es ist siebzehn Uhr zwölf Minuten und fünfundvierzig Sekunden. Beim nächsten Summerton wird es…«

An die folgenden Ereignisse habe ich keine klare Erinnerung. Irgendwann drangen Nachbarn bei mir ein. Wie sie mir später erzählten, lag ich ohnmächtig über meinem Schreibtisch, das Telefonkabel um den Hals, und brachte noch stundenlang, nachdem ich zu Bewußtsein gekommen war, nichts anderes heraus als krrr-krx – rrrx – pschsch – krrr. Klingeln konnte ich damals noch nicht.

Variation auf Rumänisch

Auch andere haben Telefon zu Hause. Und Probleme. An einem besonders staubigen Nachmittag rief ich bei Weinreb an – in einer ganz bestimmten Angelegenheit, die hier keine Rolle spielt. Jedenfalls hatte ich die Absicht, ihm gründlich die Meinung zu sagen. Der Hörer wurde abgehoben.

»Hallo«, sagte eine zaghafte Frauenstimme. »Hallo.«

»Hallo«, antwortete ich. »Wer spricht?«

»Weiß nicht. Niemanden kennen.«

»Ich habe gefragt, wer spricht.«

»Hier?«

»Ja, dort.«

»Dort?«

»Auch dort. Mit wem spreche ich?«

 »Weiß nicht. Niemanden kennen.«

»Sie müssen doch wissen, wer spricht!«

»Ja.«

»Also wer?«

»Ich.«

»Wer sind Sie?«

»Ja. Neues Mädchen.«

»Sie sind das neue Mädchen?«

»Ich.«

»Gut. Dann rufen Sie bitte Herrn Weinreb.«

»Herrn Weinreb. Wohin?«

»Zum Telefon. Ich warte.«

»Ja.«

»Haben Sie verstanden? Ich warte darauf, daß Sie Herrn Weinreb zum Telefon rufen!«

»Ja. Ich – rufen. Du – warten.«

Daraufhin geschah zunächst gar nichts. Dann räusperte sich etwas in der Muschel.

»Weinreb?« fragte ich hoffnungsfroh.

»Nein. Neues Mädchen.«

»Aber ich habe Sie doch gebeten, Herrn Weinreb zu rufen.«

»Du sprechen Rumänisch?«

»Nein! Rufen Sie Herrn Weinreb!!«

»Kann nicht rufen.«

»Dann holen Sie ihn!«

»Kann nicht. Weiß nicht. Kann nicht holen.«

»Warum nicht? Was ist denn los? Ist er nicht zu Hause?«

»Weiß nicht. Hallo.«

»Wann kommt er zurück?«

»Wer?«

»Weinreb! Wann er wieder nach Hause kommt! Wo ist er?«

»Weiß nicht«, schluchzte das neue Mädchen. »Ich kommen aus Rumänien. Jetzt. Niemanden kennen.«

»Hören Sie, mein Kind. Ich möchte mit Herrn Weinreb sprechen. Er ist nicht zu Hause. Gut. Sie wissen nicht, wann er zurückkommt. Auch gut. Dann sagen Sie ihm wenigstens, daß ich angerufen habe, ja?«

»Angerufen habe ja.« Abermals ertönte das Schluchzen des neuen Mädchens. »Hallo.«

»Was gibt es jetzt schon wieder?«

»Kann Weinreb nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Was ist das: Weinreb?«

»Was heißt das: was ist das? Kennen Sie ihn nicht?«

»Du sprechen Rumänisch? Bißchen Rumänisch?«

»Sagen Sie mir, mit wem ich verbunden bin. Mit welcher Wohnung.«

»Kostelanetz. Emanuel. Hallo.«

»Welche Nummer?«

»Dreiundsiebzig. Zweiter Stock.«

»Ich meine: welche Telefonnummer?«

»Weiß nicht.«

»Ist sie denn nicht auf dem Telefon aufgeschrieben?«

»Was?«

»Die Nummer!«

»Wo?«

»Auf dem Telefon!«

»Hier ist kein Telefon.«

Dingsda

Die Tür wurde aufgerissen, und Glick, der Ingenieur Glick, stürzte herein. Er atmete schwer, seine Augen waren die eines weidwund geschossenen Rehes, wie sie nur Inhaber erkrankter Telefone haben.

»Angefangen hat es an einem Wochenende«, berichtete er keuchend, »als das Telefon bei mir im Büro kaputtging. Ich benachrichtigte die Störungsstelle, und ein paar Tage darauf kam ein Fachmann vom Fernmeldeamt, der den Apparat auseinandernahm. >Mein Herr<, eröffnete er mir, >mit dem Telefon ist alles in Ordnung. Wir müssen nur so ein Dingsda auswechselnd.< Ich sagte ihm, ich hätte nichts dagegen, worauf er entschwand. Da er nie wieder auftauchte, informierte ich die Störungsstelle, daß mein Telefon immer noch kaputt wäre…«

Glick holte tief Atem: »Ein paar Tage später kam ein zweiter Fachmann, nahm den Apparat auseinander und stellte fest: >Mein Herr, wir müssen so ein Dingsda auswechseln.< Ich bestätigte: >Natürlich müssen Sie das Dingsda auswechseln. Ihr Kollege hat mir ja bereits mitgeteilt, daß es am Dingsda liegt.< Der Mann ließ mich wissen, daß er über kein Dingsda verfüge. Und ging. Ich wartete eine volle Woche. Dann bat ich die Störungsstelle, man möge mir jemand schicken …«

»Und man hat nicht!«

»Man hat doch. Ein dritter Fachmann kam, nahm den Apparat auseinander und sagte: >Mein Herr, ich möchte, daß Ihnen die Situation klar ist. In meinem Arbeitsauftrag hier ist vermerkt, daß dieses Dingsda in Ihrem Telefon angeblich nicht mehr funktioniert. Ich habe Ihren Apparat nachgeprüft und festgestellt, daß das stimmt. Das Dingsda funktioniert nicht. Schalom.< Damit ging er. Ich stürzte zum nächsten Telefonhäuschen, rief die Störungsstelle an und forderte sie auf, mir ein Dingsda zu bringen, tot oder lebendig. Ich kündigte an, andernfalls jede Stelle der Störungsstelle zu zerstören. Also – ein Fachmann… ein vierter… kam zu mir ins Büro…«

»Und Sie teilten ihm mit, daß Ihr Dingsda nicht funktioniert!«

»Nein. Das wußte er schon. Er nahm nur den Apparat auseinander und fragte mich, woher, meiner Meinung nach, er um diese Tageszeit ein Dingsda herbekommen solle. Ich sagte ihm: >Das weiß ich doch nicht, ich habe kein Ersatz-Dingsda hier im Büro herumliegen. Kaufen Sie eins auf dem Schwarzmarkt, klauen Sie eins, ermorden Sie jemanden, um eins zu bekommen. Aber wagen Sie ja nicht, ohne Dingsda wiederzukommen! < Daraufhin ging er. Ich schrieb an meine Verwandten im Ausland und bat sie dringend, mir ein Dingsda zu schicken. Sie verbaten sich diese Anzüglichkeiten und brachen jede Verbindung mit mir ab. In meinen Träumen wurde ich von einem Dingsda rund um den Straßenblock gejagt. Es sah aus wie ein Drache, nur anstatt eines Kopfes hatte er so ein Dingsda. Meine Nerven drohten gerade vollends zu versagen, als mir der rettende Einfall kam: Ich rief die Störungsstelle an und beantragte, den ganzen Apparat auszuwechseln. Sie haben sofort gierig nach dieser Lösung gegriffen…«

»Haben sie gewechselt?«

»Warten Sie ab. Ein Fachmann kam mit einem neuen Apparat. Aber als er den alten abmontierte, fragte er: >Wozu brauchen Sie einen neuen Apparat? Der alte ist völlig in Ordnung, da muß nur das Dingsda ausgewechselt werden. < Ohne ein einziges Wort ging ich ins Nebenzimmer und lud meinen Revolver. Aber in der Zwischenzeit hatte der Mann ein Dutzend Dingsdas aus seiner Tasche geholt und das kaputte Dingsda ausgewechselt. Seitdem funktioniert mein Telefon einwandfrei.«

»Und warum sind Sie dann so nervös?«

»Das macht das Wetter.«

Terzett

Eine der vordringlichsten Eigenschaften von Fernsprechapparaten ist die Tatsache, daß man sich seinen Anrufer nicht aussuchen kann. Ich beklage mich nicht. Im Gegenteil, was mich betrifft, so respektiere ich im großen und ganzen meine Mitmenschen, im Sinne der UNO-Charta, samt Zubehör. Aber auch meine Geduld hat Grenzen. Zum Beispiel dann, wenn mein Telefon wieder einmal sein Eigenleben führt. Ich sitze also gemütlich an meinem Tisch, um zu schreiben. Da fällt mir plötzlich ein, daß ich dringend meinen guten Freund Joshka anrufen muß. Ich hebe den Hörer ab, aber noch bevor ich wählen kann, sagt mir eine besorgte Stimme:

»Die ganze Ladung ist schon im Hafen von Haifa, Gusti. Geh gleich zu Birnbaum und sag ihm, er soll sich um die Papiere kümmern.«

Ich sage: »Sie sind falsch verbunden, gehen Sie sofort aus der Leitung.:«

Da meldet sich eine zweite Stimme und sagt tief und heiser: »Wer ist das?«

Ich lege den Hörer auf und versuche es noch einmal. Sofort informiert mich die heisere Stimme:

»Die im Hafen haben überhaupt kein Recht, Zoll zu verlangen.«

»Natürlich haben sie ein Recht dazu«, äußere ich mich zum Problem. »Zumindest Sie sollten das wissen, Gusti.«

»Klappe«, sagt die besorgte Stimme.

»Ich will meine freie Leitung«, erkläre ich. »Legen Sie auf. Beide.«

»Legen Sie selber auf«, schlägt der Heisere vor und fügt hinzu: »Ein Neueinwanderer hat doch schließlich das Recht auf zollfreie Einfuhr.«

»Das schon«, imitiere ich den Sorgenvollen, »aber seit wann, lieber Gusti, bist du ein Neueinwanderer?«

»Sag mal, spinnst du?« antwortet Gusti. »Ich meinte natürlich Birnbaum.«

»Moment«, unterbricht uns der Besorgte, »das war nicht ich! Da mischt sich schon wieder dieser Dussel in unser Gespräch.«

Ich verstelle von neuem meine Stimme und spreche nun im schrillen Diskant: »Hallo, hier Zentrale. Alle Teilnehmer sind aufgefordert, ihre Gespräche zu beenden. Die Leitung muß überprüft werden.«

»Nur noch einen Moment, Fräulein«, fleht mich der Besorgte an, »wir sind gleich fertig.«

»Trottel«, sagt der Heisere, »merkst du denn nicht, daß uns der Kerl zum Narren hält?«

»Natürlich merke ich es, Gusti«, antworte ich sorgenvoll. »Laß uns das Gespräch lieber abbrechen, wir sehen uns ja morgen in Haifa. Adieu!«

»Halt!« brüllt der Besorgte. »Leg nicht auf, Gusti! Das war doch wieder dieser Irre! Hören Sie zu, Sie Telefonpirat, wenn ich Sie erwische…«

»Es wird mir ein Vergnügen sein«, erwidere ich, »hier spricht der Zollinspektor von Haifa.«

»Schon gut, ignorier den Kerl«, sagt der Heisere dem Besorgten. »Man muß Birnbaum sagen, daß er als Neueinwanderer Privilegien hat…«

Während ich mir den Hörer zwischen Ohr und Schulter klemme, hole ich die gesammelten Werke meines Kollegen Shakespeare hervor und schlage bei »Macbeth«, V. Akt, letzte Szene nach:

»Schweige, du Höllenhund, schweig still. Von allen Menschen mied ich dich allein«, lege ich meinen Gesprächspartnern meinen Standpunkt dar. »Mit Blut der Deinen ist meine Seele schon zu sehr beladen.«

»Wie bitte?« erkundigen sich die heisere und die besorgte Stimme erschöpft, aber unisono. »Was will denn der Kerl eigentlich von uns?«

In diesem Moment gesellt sich eine vierte Stimme zu unserem Trialog:

»Hallo«, ruft eine Telefonistin. »Hier Zentrale.«

»Scheren Sie sich zum Teufel!« platzt dem Besorgten der Kragen. »Verduften Sie aus der Leitung, Sie Vollidiot!«

Da wirft uns das Fräulein von der Zentrale endlich alle aus der Leitung. Shakespeare hat sich wieder einmal bewährt.

Im Dienst der Völkerverständigung

Gedächtnisprotokoll, erstellt im Auftrag des bundesdeutschen Ministers für das Post- und Fernmeldewesen. Betrifft: Aufnahme des direkten telefonischen Durchwahldienstes zwischen der Bundesrepublik und Israel.

Bonn 10.55 Uhr.

Pünktlich zur vereinbarten Uhrzeit griff seine Exzellenz der Minister für das Post- und Fernmeldewesen der Bundesrepublik nach dem Telefon, das auf dem Schreibtisch stand. Rundfunk- und Fernsehreporter waren zugegen, die Kameraleute der Tagesschau schalteten ihre Geräte ein, und Seine Exzellenz der Minister wählte unter atemloser Spannung aller Anwesenden auf direktem Weg die Nummer seines Amtskollegen, des israelischen Ministers für Post- und Fernmeldewesen in Jerusalem.

Im Monitor der Kamera erschien in Großaufnahme der Zeigefinger Seiner Exzellenz, und man konnte die von ihm gewählte Nummer genau verfolgen: 009.722/ 3044512307. Doch die Leitung war leider besetzt. Um 11.02 Uhr wählte der Minister erneut die Nummer 009.722/3044512307, doch die Leitung war noch immer besetzt.

Seine Exzellenz lächelte verlegen in die surrenden Kameras und begann wieder die obige Nummer zu wählen. Um Punkt 11.09 Uhr meldete sich Jerusalem.

»In diesem langersehnten Moment, der den guten Willen unserer beiden Völker dokumentieren soll«, sagte der Postminister in deutscher Sprache, »da die erste direkte Fernmeldeverbindung zwischen unseren beiden durch ein weites Mittelmeer getrennten Ländern eröffnet wird, ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen, Exzellenz, zum Ausdruck zu bringen, daß dieses Ereignis von höchst politischer Tragweite dem Verständnis unserer freundlichen Beziehungen für immer…«

»Alle Anschlüsse sind besetzt«, meldete sich über die Direktleitung eine hebräische Stimme. »Bitte warten, bitte warten.«

»Danke«, sagte der Minister. »Ich glaube, im Namen unserer beiden Völker zu sprechen, Exzellenz, daß dieser Moment der Beginn einer immer enger werdenden Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ministerien werden könnte …«

An dieser Stelle meldete sich der Chefdolmetscher des deutschen Postministeriums, Rabbi Fledermaus, zu Wort und lenkte die Aufmerksamkeit seiner Exzellenz des Ministers auf den nebelhaften Charakter des empfangenen hebräischen Textes.

Der Postminister schluckte einmal kurz, lächelte beherzt in die Kameras und wählte wieder mit eigenem Zeigefinger die Nummer 009.722/3044512307. Zum großen Erstaunen aller Umstehenden wurde die direkte Verbindung zum Amtssitz des israelischen Ministers für das Post- und Fernmeldewesen sofort hergestellt.

»In diesem langersehnten Moment, der den guten Willen unserer beiden Völker dokumentieren soll . «, begann der Minister, aber weiter kam er nicht, denn er wurde von einer resoluten Frauenstimme unterbrochen. Im Folgenden wird der genaue Wortlaut der Unterhaltung wiedergegeben, die teils hebräisch, teils in einem mediterranen Gebrauchsenglisch geführt wurde. Fräulein Zippi: »Legen Sie sofort den Hörer auf. Shimon erwartet jetzt einen Anruf aus Deutschland! Sie sollen auflegen, oder sind Sie schwerhörig?«

Minister: »Ich melde mich aus Bonn…«

Fräulein Zippi: »This ist direct line, you hear? Away with you!«

Minister: »Ich bin der Minister für Post- und Fernmeldewesen der Bundesrepublik Deutschland.«

Fräulein Zippi: »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich verbinde!«

Minister: »Exzellenz, in diesem langersehnten Moment, der den guten Willen unserer beider Völker …«

Fräulein Zippi: »Wait a little, Mister Minister, ich hab meinen Chef noch nicht gefunden. Wo kann er nur sein? Jossel, hast du eine Ahnung, wo Shimon steckt? Ich halt das mit den Nerven nicht aus, alle gehn fort und lassen mich da allein ohne Techniker in der Zentrale sitzen. Wie komm ausgerechnet ich dazu, mit einem deutschen Bonzen reden zu müssen. Mein Ehrenwort, wenn das noch einmal passiert, schmeiß ich alles hin.«

*

Bonn 11.17 Uhr.

Im Protokoll ist vermerkt, daß an dieser Stelle die direkte Fernmeldeverbindung unterbrochen wurde. Der Herr Minister wählte ein weiteres Mal die direkte Durchwahlnummer (009.722/3044512307), worauf der diensthabende Arzt den Finger des Ministers mit einem Verband essigsaurer Tonerde versah. Aus der Leitung kam dezente Unterhaltungsmusik. Der Chefdolmetscher Rabbi Fledermaus verlieh seiner Meinung Ausdruck, daß in Jerusalem die Telefonnummer geändert worden sein könnte.

Die Kameras wurden abgestellt, und die Festgäste wurden ans Büffet gebeten. Da läutete das Telefon: Fräulein Zippi: »Pinchas, sag mir, ist Shimon vielleicht bei euch? Mensch, warum sagt denn keiner was! Shimon, hör zu, der Bonner Jecke will mit dir reden . mach dir keine Sorgen, er kann dich nicht hören, ich habe die Leitung gesperrt . Hallo, ich verbinde! Mister Minister, I make the connection now.«

Israels Postminister: »Exzellenz, es ist mir eine Ehre, Ihnen den freundschaftlichen Gruß unserer Hauptstadt Jerusalem übermitteln zu dürfen…«

Minister: »In diesem langersehnten Moment des guten Willens, da unsere beiden Völker …«

In dieser Phase des hochoffiziellen Gespräches zwischen den beiden Ministerexzellenzen war plötzlich eine weitere Stimme in der Direktverbindung zu vernehmen:

»Hör zu, Rappaport, wenn ich nicht bis Montag den Kaufvertrag habe, kannst du Platschek sagen, daß er nicht einen Piaster zu sehen bekommt!« Darauf antwortete eine nicht näher zu identifizierende Stimme:

»Robitschek, ich hab immer schon gewußt, daß du ein mieser Baldower bist. Mich brauchst du nicht mehr zu grüßen, Schalom!«

Fräulein Zippi: »Mir scheint, da ist jemand in die Leitung hineingekommen. Bitte um Entschuldigung, ich werde ihn sofort hinauswerfen.«

*

11.44 Uhr.

Das Protokoll vermerkt, daß an dieser Stelle der telefonische Kontakt zwischen den beiden Ministerien endgültig abbrach.

Nach einigen weiteren Minuten meldete sich der israelische Postminister über die konventionelle Fernvermittlung und sagte dem Herrn Minister in feierlichem Tonfall: »Verehrter Herr Kollege, es freut mich aufrichtig, daß die modernen Errungenschaften der Technik sowie die hochentwickelten elektronischen Apparaturen, die uns neuerdings zur Verfügung stehen, die Kommunikation zwischen unseren beiden Ländern zu einem Kinderspiel machen. Gestatten Sie mir, Exzellenz, auf diesem Wege meiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß dies erst der Beginn…«

Fräulein Zippi: »Ferngespräch! Auflegen! You stop speak now, Mister.«

Und damit endete die feierliche Einweihungszeremonie. In beiderseitigem Einvernehmen wurde beschlossen, alle weiteren Kontakte auf brieflichem Wege abzuwickeln.

Sparmaßnahme

Neulich besuchte ich meinen Freund Jossele, der im Sinne des Kriegslogans »Lerne den Feind kennen!« dem Staatsapparat beigetreten war und nun als Beamter in irgendeinem Regierungsbüro saß. Jossele war gerade ins Feilen seiner Nägel vertieft, als ich sein Büro betrat. Er bot mir einen Stuhl an und wir unterhielten uns eine Weile über dies und jenes, bis uns plötzlich das Läuten des Telefons unterbrach.

»Eins … zwei …« zählte Jossele die Klingelzeichen, machte aber keine wie immer gearteten Anstalten, den Hörer abzuheben. »Drei… vier… fünf…«

Nach sechzehn Klingelzeichen beruhigte sich das Telefon. Jossele nahm den Hörer ab, wählte eine Nummer, wartete einige Augenblicke lang und legte dann den Hörer wortlos wieder auf. Dann begann das Telefon wieder zu läuten und zwar genau 43mal…

»Typisch Weiber«, erklärte Jossele. »Das war Hortensia. Sie hat mir eben mitgeteilt, sie sei gestern nicht zu Simons Party gekommen, weil sie sich mit den Chilibohnen in der Kantine den Magen verdorben hätte. Diesen Mädchen könnte auch einmal eine bessere Ausrede einfallen!«

Und so wurde ich in Josseles Methode eingeweiht, die Ausgaben der öffentlichen Hand zu reduzieren. Das Ganze begann mit einem internen Rundschreiben, das ab sofort den Telefongebrauch für Privatzwecke strikt verbot. Die Angestellten der Telefonzentrale wurden angewiesen, Zuwiderhandelnde zu melden.

»Anfangs war ich wirklich besorgt«, erzählte mir Jossele. »Schließlich war ich daran gewöhnt, täglich ein, zwei Stunden mit Hortensia zu plaudern. Wir mußten uns deshalb ein System ausdenken, um die neue Verordnung zu umgehen. Wir erfanden also einen Code, der aus Klingelsignalen besteht. Und nun können wir uns, ohne dem Steuerzahler zur Last zu fallen, in unserer Klingelsprache genausogut wie in den alten Tagen unterhalten. Einmal läuten zum Beispiel bedeutet >Wie geht es dir heute, was gibt’s Neues<, sechs Klingelzeichen: >Mach keine blöden Witze<, neun: >Wollen wir heute abend ins Kino gehen? Ich habe gehört, daß der neue Woody-Allen-Film recht komisch sein soll.< Zehnmal: >Schon gesehen, mich hat er eher gelangweilt.< Achtzehnmal: >Was hast du gesagt? Sprich ein bißchen deutlicher Mädl, ich kann dich nicht verstehen.< Zweiundzwanzigmal klingeln: >Gib nicht so an!< Fünfundzwanzigmal: >Schon gut, Hortensia, von mir aus, geh mit Simon, mir kann es nur recht sein.< Einunddreißigmal: >Ich? Eifersüchtig? Mach dich nicht lächerlich. < Zweiunddreißigmal: >Merk dir endlich, ich bin schließlich kein Baby mehr!< Siebenundfünfzigmal: >Nein?< Und so weiter bis zum neunzigsten Klingelzeichen, und das bedeutet: >Glaub ja nicht, daß ich auf dich angewiesen bin, hallo, warte einen Moment, häng nicht auf! Zum Teufel, jetzt hat sie aufgehängt!«

»Wirklich nicht schlecht«, mußte ich zugeben. »Aber wie kannst du wissen, daß Hortensia und nicht jemand anderer anruft?«

»Dumme Frage«, lächelte mich Jossele an. »Ich hebe den Hörer erst nach dem neunzigsten Klingelzeichen ab.«

»Hält denn jemand überhaupt solange durch?«

»Aber klar. Schließlich sind wir eine staatliche Institution.«

Ein abwechslungsreiches Telefonat

Vor einigen Tagen suchte ich das Büro einer großen Fluggesellschaft auf, bei der ich einen Flug buchen wollte, und sprach mit einer der Damen am Buchungsschalter. Sie hatte ein sehr junges Gesicht, das einen reizvollen Kontrast zu ihrem grauen, in einen Pferdeschwanz gebundenen Haar ergab. Zum Abschluß unseres Gesprächs bat sie mich, meine Adresse zurückzulassen, worauf ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm und sie ihr übergab. Am nächsten Tag mußte ich feststellen, daß bei dieser Gelegenheit die Notizblätter mit den Telefonnummern herausgefallen waren, kleine, rechteckig geschnittene Blätter, blau liniert, mit einem roten Querstreifen, sehr übersichtlich. Und sehr wichtig. Ich rief sofort im Büro der Fluggesellschaft an. Eine weibliche Stimme sagte: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, antwortete ich, »Ich war gestern bei Ihnen und habe mit einer Ihrer Beamtinnen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und als ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm, müssen einige Papiere herausgefallen sein, mit Telefonnummern, die ich dringend brauche. Bitte würden Sie – «

»Einen Augenblick, mein Herr. Ich bin nur die Telefonistin. Ich verbinde Sie mit dem Sekretariat.«

»Danke.«

»Hallo.« Das war jetzt eine männliche Stimme. »Hier das Sekretariat.«

»Es handelt sich um folgendes«, begann ich. »Ich war gestern bei Ihnen und habe mit einer Ihrer Beamtinnen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und ich erinnere mich sehr deutlich, daß ich meine Brieftasche herauszog und ihr eine Visitenkarte entnahm. Zu Hause habe ich festgestellt, daß bei dieser Gelegenheit auch einige Blätter mit wichtigen Notizen herausgefallen waren, und – «

»Bitte warten Sie«, unterbrach mich die männliche Stimme. »Ich gebe Sie zum Buchungsschalter durch.«

Es vergingen nur wenige Minuten, bis eine weibliche Stimme sich am Buchungsschalter meldete.

»Ich weiß nicht, ob Sie es waren, mit der ich gestern vormittag gesprochen habe«, begann ich. »Es war jedenfalls eine Ihrer Beamtinnen, eine Dame mit sehr jungem Gesicht und grauen Haaren in einem Pferdeschwanz. Sind Sie das?«

»Leider nicht. Aber vielleicht kann ich Ihnen trotzdem helfen?«

»Danke vielmals. Also die Dame, mit der ich zu tun hatte, bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und ich erinnere mich deutlich, daß ich meine Brieftasche herausgezogen habe, um ihr eine Visitenkarte zu entnehmen. Bei dieser Gelegenheit sind einige wichtige Notizblätter – «

»Wann ist das passiert?«

»Gestern vormittag. Am frühen Vormittag, Fräulein.«

»Ich bedaure. Gestern hatte ich keinen Dienst. Sie müssen mit Alissa sprechen. Bitte bleiben Sie am Apparat.«

Nach einer Pause meldete sich eine neue Frauenstimme: »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Fräulein. Ich war gestern in Ihrem Büro und sprach mit einer Ihrer Buchungsbeamtinnen, an ihren Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber sie hat ein junges Gesicht mit einem grauen Ponyschwanz und bat mich, meine Adresse – «

»Verzeihen Sie, daß ich unterbreche. Hier ist wieder die Telefonistin. Sie haben heute schon einmal angerufen, nicht wahr? Mit wem wollen Sie jetzt verbunden werden?«

»Mit Fräulein Alissa.«

»Sofort… Alissa! Du wirst am Telefon verlangt… Bitte sprechen Sie.«

»Guten Tag, Fräulein Alissa. Man hat mich wegen dieser herausgefallenen Notizblätter an Sie gewiesen. Ich war gestern in Ihrem Büro und habe am Buchungsschalter mit einer Ihrer Damen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß sie ein junges Gesicht und graue Haare in einem Pferdeschwanz hatte und daß ich meine Brieftasche herausnahm, um ihr eine Visitenkarte zu geben, weil sie meine Adresse haben wollte, und – «

»Welche Alissa meinen Sie? Alissa von der Luftfracht oder Alissa von der Buchung?«

»Von der Buchung.«

»Das bin nicht ich. Ich gebe Sie an die Zentrale zurück.«

»Hallo?« flötete die Zentrale. »Was wünschen Sie?«

»Alissa von der Buchung.«

Ein kurzes Geräusch, ein kurzes Knacken, ein abgehobener Hörer.

»Fräulein Alissa von der Buchung?« fragte ich.

»Ja.«

»Endlich. Ich habe eine Anfrage, weiß aber nicht, ob ich mit der richtigen Abteilung verbunden bin.«

»Sagen Sie mir bitte, um was es sich handelt. Dann werden wir’s wissen.«

»Ich war gestern bei Ihnen. Gestern vormittag. Eine Ihrer Beamtinnen, ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz, also diese Dame bat mich, meine Adresse zurückzulassen – «

»Nein, nein«, unterbrach mich Alissa. »Das war nicht meine Abteilung. Haben Sie schon mit dem Sekretariat gesprochen?«

»Ja. Mit einem Herrn.«

»Mit Stern?«

»Möglich. Ich konnte das durchs Telefon nicht erkennen.«

»Sicherlich war es Stern. Ich verbinde.«

»Guten Abend«, sagte Stern. »Hier Stern.«

»Habe ich vor einigen Stunden mit Ihnen gesprochen, Herr Stern?«

»Worüber?«

»Über die Visitenkarte aus meiner Brieftasche, gestern vormittag, und über die verlorenen Notizblätter mit den Telefonnummern.«

»Nein, das muß jemand anderes gewesen sein. Um was handelt es sich?«

»Es handelt sich um folgendes. Gestern vormittag war ich bei Ihnen, das heißt am Buchungsschalter, wegen einer Buchung. Die Beamtin, eine Dame mit sehr jungem Gesicht und grauem Haar in einem Pferdeschwanz, wollte meine Adresse haben – «

»Entschuldigen Sie, hier herrscht ein solcher Lärm, daß ich Sie nicht hören kann. Bitte bleiben Sie am Apparat. Ich melde mich aus einem anderen Zimmer.«

Tatsächlich meldete er sich etwas später aus einem anderen Zimmer:

»Hallo? Ja, jetzt ist es besser. Also wenn ich richtig verstanden habe, dann waren Sie gestern bei uns…«

»Stimmt. Gestern vormittag. Und ich habe mit einer Ihrer Beamtinnen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und als ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm, müssen einige sehr wichtige Notizblätter herausgefallen sein – «

»Das kann vorkommen«, tröstete mich Stern. »Ich nehme an, daß diese Blätter irgendwo bei uns liegen. Lassen Sie mich doch einmal herumfragen .«

Ich hörte seine gedämpfte Stimme, die der Belegschaft im Nebenraum bekanntgab, daß gestern vormittag jemand hier gewesen sei und mit einem der Mädchen gesprochen hätte, einem Mädchen mit jungem Gesicht und grauem Ponyschwanz, wahrscheinlich Stella, er wollte ihr seine Adresse geben und hatte sein Taschenbuch herausgenommen und bei dieser Gelegenheit sein Notizbuch verloren oder die Blätter mit den wichtigen Telefonnummern .

»Augenblick«, hörte ich eine andere Stimme rufen.

»Ich glaube, der Portier hat etwas davon gesagt, daß er ein Notizbuch gefunden hat.«

Es dauerte nicht lange, und ich war mit dem Portier verbunden.

»Waren es rechteckige Blätter, blau liniert?« fragte er.

»Richtig. Und es standen Telefonnummern drauf.«

»Ich habe die Blätter heute an Ihre Adresse geschickt. Sie müßten morgen in der Post sein.«

»Danke. Danke vielmals.«

»Was war denn eigentlich los?«

»Nichts Besonderes. Ich hatte vorgestern in Ihrem Büro mit einer Ihrer Damen gesprochen, ihren Namen weiß ich nicht mehr, sie hat ein sehr junges Gesicht und trägt ihr graues Haar in einem Pferdeschwanz. Sie bat mich, meine Adresse zurückzulassen, und als ich meiner Brieftasche eine Visitenkarte entnahm, müssen diese Papiere herausgefallen sein, mit Telefonnummern, die ich sehr dringend brauche – «

»Na, Hauptsache, daß sich die Blätter gefunden haben«, sagte der Portier.

»Ja, wirklich. Das ist die Hauptsache. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte der Portier.

Mord durch den Draht

Wir sitzen in meiner Wohnung, Jossele und ich, summen die befreite Nationalhymne von Ruanda-Urundi vor uns hin, ohne Text, und langweilen uns. Plötzlich geht das Telefon, und irgendein Kerl will mit der Viehmarktzentrale Nord sprechen. Ich sage, »Falsch verbunden«, und lege auf. Ein paar Sekunden später geht das Telefon, und es ist schon wieder der Kerl, der mit der Viehmarktzentrale Nord sprechen will. Ich lasse ihn abermals, und diesmal schon etwas schärfer, wissen, daß ich keine Viehmarktzentrale bin, und wenn er noch einmal – »Warte«, flüstert Jossele und nimmt mir den Hörer ab.

»Hier Viehmarktzentrale Nord«, sagt er in die Muschel.

»Endlich!« Der Anrufer atmet hörbar auf. »Bitte, Herrn Sulzbaum.«

»Sulzbaum arbeitet nicht mehr bei uns.«

»Wieso? Was ist passiert?«

»Man hat seine Machenschaften aufgedeckt.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Er war fällig. Oder haben Sie geglaubt, es würde ewig so weitergehen?«

»Natürlich nicht!« Die Stimme des andern klang freudig bewegt. »Ich habe es schon längst kommen gesehen.«

»Eben. Er hat das Ding überdreht. Und das muß er jetzt büßen, mitsamt seinen Komplizen.«

»Was? Auch Slutzky?«

»Ein Jahr Gefängnis.«

»Recht geschieht ihm. Wer übernimmt seinen Posten?«

»Heskel.«

»Kenn’ ich nicht.«

»Der kleine Dicke mit der Knollennase.«

»Der? Sie glauben, der ist besser als Slutzky? Alles dieselbe Bande.«

»Als ob ich’s nicht wüßte« seufzte Jossele. »Über diesen Punkt mache ich mir keine Illusionen. Sonst noch etwas?«

»Nein, danke. Sagen Sie Heskel nichts von meinem Anruf.«

»Ich werde mich hüten.«

Und damit legt Jossele befriedigt den Hörer hin.

»Bist du nicht ein wenig zu weit gegangen?« fragte ich zaghaft.

»Du denkst immer nur an dich selbst und nie an meine Nerven. Wenn du noch einmal falsch verbunden gesagt hättest, wäre der Kerl wütend geworden und hätte uns immer wieder belästigt. Jetzt ist er glücklich, weil er als einziger weiß, daß es Sulzbaum und seine Freunde erwischt hat – und wir haben unsere Ruhe. Aber auch Sulzbaum hat seine Ruhe. Er und seine Freunde können ungestört weitermachen. Kurz und gut: es ist allen geholfen.«

Falsche Nummer – richtig verbunden

Kaum hatte ich ein eigenes Telefon bekommen, da bemerkte ich plötzlich, daß die Umwelt ihre Einstellung zu mir geändert hatte. Gute Bekannte hörten auf, mich zu grüßen, oder wechselten im Kaffeehaus, wenn ich mich zu ihnen setzen wollte, den Tisch – kurzum: Wo immer ich ging und stand, umgab mich ein dichter Nebel von Feindseligkeit. Die beste Ehefrau von allen behauptete, daß mein miserabler Charakter daran schuld wäre, und ich hätte ihr beinahe zugestimmt, weil ich bei näherer Betrachtung ja wirklich ein widerwärtiger Mensch bin… Bis mich ein Zufall auf die Lösung des unheimlichen Rätsels brachte. Ich fand mich in ein Schicksal verwickelt, das noch düsterer war als die griechischeste aller antiken Tragödien. Unser Rundfunk hatte mich zusammen mit einem hervorragenden Wissenschaftler zu einer hervorragenden wissenschaftlichen Sendung eingeladen und ließ uns vom Studiowagen abholen, zuerst meinen Kollegen, dann mich. Als ich einstieg, begrüßte er mich mit einer Kälte, aus der sonst nur Spione zu kommen pflegen, aber keine Wissenschaftler. Minutenlang saß er stumm neben mir. Erst an einer Kreuzung, die uns zu längerem Aufenthalt nötigte, brach er sein eisiges Schweigen:

»Eins sag ich Ihnen, Herr. Wäre dieses Programm nicht schon vor Wochen festgelegt worden, dann hätte ich aus der unverschämten Art, wie Sie mit meiner Frau am Telefon gesprochen haben, die Konsequenz gezogen und hätte es abgelehnt, mit Ihnen gemeinsam aufzutreten.«

Bestürzt und ratlos sah ich ihn an. Verheiratete Frauen zu beleidigen, ist keine Leistung, auf die man stolz sein dürfte, am allerwenigsten, wenn man sich nicht erinnern kann, mit der betreffenden Dame überhaupt gesprochen zu haben. Demgemäß informierte ich meinen Kollegen, daß seine Gattin sich nicht auf der Liste jener Personen befand, die ich für telefonische Grobheiten vorgemerkt hatte.

»Erzählen Sie mir nichts«, gab er wütend zurück.

»Heute vormittag hat meine Frau bei Ihnen angerufen, um Sie zu fragen, wann der Wagen vom Studio käme. Sie empfahlen ihr, zum Teufel zu gehen, und fügten hinzu, daß Sie kein Informationsbüro sind. Halten Sie das für eine höfliche Antwort?«

Ich fühlte mein Blut erstarren. Sollte es bei mir schon so weit sein? Noch kennt und schätzt mich die Welt als hochgradig produktiven Schriftsteller… und in Wahrheit durchrieselt mich bereits der Kalk der Senilität. Bei allem, was mir heilig ist – und das ist wenig genug –, hätte ich schwören können, daß ich noch nie im Leben mit der Gattin meines Programmpartners ein Telefongespräch geführt hatte. Außerdem war ich heute vormittag gar nicht zu Hause. Was ging hier vor?

»Ihre Frau hat mich angerufen?« fragte ich.

»Jawohl. Heute vormittag.«

»Zu Hause?«

»Wo denn sonst? Und Ihre Nummer hatte sie aus dem Telefonbuch.«

An dieser Stelle begann sich das Geheimnis zu entschleiern. An dieser Stelle entdeckte ich meinen Doppelgänger, mein gestohlenes Ich. Wäre das Ganze ein Kriminalfall, er hieße: »Der Mann, der zweimal war«, und Michael Douglas würde die Hauptrolle spielen. Da es sich jedoch um ein simples menschliches Drama handelt, sei hiermit klargestellt, daß es das Israelische Postministerium war, das diese infame Persönlichkeitsspaltung an mir vorgenommen hat. Wie man weiß, ist unser Postministerium keineswegs konservativ und wünscht seinem fortschrittlichen Ruf vor allem dadurch gerecht zu werden, daß es alle paar Monate einen Teil der Telefonnummern ändert. Es beruft sich dabei auf die fortschreitende Automatisierung des Telefonnetzes, die hauptsächlich darin besteht, daß beispielsweise alle mit 37 beginnenden Nummern plötzlich mit 6 beginnen und alle mit 6 beginnenden plötzlich mit 37. Ich spreche aus Erfahrung. Meine eigene Nummer wurde im Verlauf der letzten drei Jahre dreimal in ihr Gegenteil verwandelt, unter strikter Beobachtung der ungeschriebenen Gesetze des hebräischen Post- und Telefonverkehrs, die folgendermaßen lauten:

Du sollst im voraus keine Daten und Details angeben. Du sollst lediglich verlautbaren, daß »in der nächsten Zeit eine Anzahl von Telefonnummern geändert wird«.

Du sollst diese Änderungen immer kurz nach Erscheinen des neuen Telefonbuchs durchführen.

Aus diesen beiden Fundamentalgesetzen ergeben sich eine Unmenge vergeblicher Telefonanrufe und eine beträchtliche Steigerung der Einnahmen für das Postministerium. Mein eigener Fall ist ein gutes Beispiel dafür. Der Anrufer hat dem jetzt gültigen Telefonbuch meine Nummer entnommen, wählt die Anfangsziffer 44 und noch vier weitere Ziffern dazu und fragt:

»Ist Herr Kishon zu Hause?«

Worauf er die Antwort bekommt:

»Nicht für Sie.«

Als nächstes hört er das »Klick«, das vom abrupten Auflegen des Hörers herrührt, und der den Hörer aufgelegt hat, bin natürlich nicht ich. Es ist der Teilnehmer, der beim letzten Nummernwechselspiel meine Nummer bekommen hat. Und man kann ihm nicht einmal jede Sympathie versagen. Zweifellos hat er auf die ersten irrigen Anrufe noch sehr höflich reagiert. Aber nach einiger Zeit wurde es ihm zuviel, und seine Antworten wurden immer kürzer:

»Bedaure, Herr Kishon ist verreist.«

»Herr Kishon wurde verhaftet.«

»Kishon ist tot.«

Dann kommt das bewußte Klick.

Einer meiner Freunde berichtete mir, daß er drei Tage lang eine Verzweiflungsschlacht mit meinem Doppelgänger ausgefochten hatte und von ihm in einer Weise beschimpft wurde, die sich mit meinem Charakter einfach nicht vereinbaren ließ. Das brachte ihn endlich auf die Vermutung, daß er tatsächlich nicht mit mir sprach. Er fragte nach meiner neuen Telefonnummer und bekam von der alten folgendes zu hören:

»Sie wollen Kishons neue Nummer haben, Herr? Dann stecken Sie doch bitte Ihren rechten Zeigefinger in das kleine Loch Ihrer Drehscheibe, das durch die Ziffer 1 gekennzeichnet ist, dann in das Loch mit der Ziffer 2, und dann sind Sie mit dem Kundendienst verbunden, den Sie nach der neuen Nummer von Kishon fragen können. Ich, lieber Herr, habe nicht die Zeit, jedem hergelaufenen Plappermaul mit Auskünften zu dienen, das merken Sie ja.«

Klick.

Aber wer wollte ihm das übelnehmen. Es wäre ja wirklich zu viel von ihm verlangt, jedem Anrufer immer wieder zu sagen: »Kishons Nummer beginnt jetzt mit 41.« Der Mann ist schließlich keine Maschine. Schwer zu entscheiden, gegen wen er seinen Haß richten soll: gegen mich, dessen Nummer geändert wurde, oder gegen die Anrufer, die das nicht wissen. Wahrscheinlich verteilt Herr Klick seine Abneigung gleichmäßig auf beide Parteien. In der letzten Zeit antwortet er überhaupt nicht mehr, sondern legt den Hörer wortlos auf. Und im Grunde geschieht den Anrufern ganz recht. Wer dumm genug ist, eine im Telefonbuch verzeichnete Nummer zu wählen, hat sich alles Weitere selbst zuzuschreiben. Wie ich von meinen erfolglosen Kontaktsuchern höre, verhält sich Frau Klick ein wenig menschlicher als ihr Mann:

»Falsch verbunden, rufen Sie die Auskunft!« sagt sie unwirsch. Aber sie sagt es.

Daß sie oder er dem Irrläufer meine neue Nummer verraten, hat sich noch nie ereignet. Und bei der Auskunft sind im Augenblick alle Nummern besetzt, werden Sie bitte nicht ungeduldig, auch wenn der Augenblick eine Ewigkeit dauert. Unsere Telefonverwaltung hat einen neuen elektronischen Apparat eingerichtet, der dafür sorgen soll, daß die Auskunft nicht ununterbrochen besetzt ist. Bisher war die Sorge vergebens. Seit einigen Wochen hat mein Doppelgänger seine Antworten auf ein absolutes Minimum reduziert. Er sagt: »Krepier!« und macht klick. Das spricht sich natürlich herum. Die halbe Stadt ist sich darüber einig, daß ich ein arroganter, ungezogener Flegel bin und obendrein nicht ganz richtig im Kopf. Manchmal pirscht sich auf der Straße jemand an mich heran und zischt mir ein Schimpfwort ins Ohr. Dann weiß ich, daß er in die Kategorie 44-41 fällt. Das Postministerum hat gegeben, das Postministerium hat genommen, fern sei es von mir, mit ihm zu hadern. Nächste Woche kann ich mich wieder in der Öffentlichkeit zeigen. Nächste Woche erscheint das neue Telefonbuch, das meine richtige Nummer angibt. Genauer gesagt: meine vorübergehend richtige Nummer. Denn sie wird kurz nach Erscheinen des neuen Telefonbuchs automatisch geändert werden.

Bitte nicht am Telefon

Ein überwältigender Gedanke: Man muß sich nur vorstellen, wie Oberstleutnant Weizmann, unser erster Raumfahrer, in seiner schönsten Sabbatuniform zwischen den Sternen einherschwebt, mit seinem Raumschiff »Golda I« nur durch Funk und einen Oxygenschlauch verbunden. Und wir hier unten können die Gespräche zwischen ihm und seinem Mutterschiff mithören.

»Hallo, hallo. Hier Kommandant von Golda I. Hören Sie mich?«

»Hier Weizmann. Ich höre.«

»Wie fühlen Sie sich?«

»Ausgezeichnet.«

»Instrumente funktionieren?«

»Hervorragend.«

»Wie hoch ist die Außentemperatur?«

»Bitte nicht am Telefon!«

Genauso wird sich das abspielen. Wir wissen aus Erfahrung, daß es sich so abspielen wird. Es geht gar nicht anders. Warum sollte ein israelischer Astronaut von der israelischen Zwangsneurose frei sein, die sich in den Worten »Nicht am Telefon« äußert? Jedes Telefongespräch unter Israelis endet früher oder später mit diesen Worten. Ich rufe Weinreb an, wir sprechen über alles mögliche, und im Verlauf des Gesprächs, an einer mir geeignet scheinenden Stelle, sage ich:

»Übrigens, Weinreb – wann geben Sie mir den Tausender zurück, den ich Ihnen geborgt habe?«

Daraufhin höre ich zuerst einmal nichts, und dann Weinrebs flüsternde Stimme:

»Bitte nicht am Telefon.«

Angenommen, ich gebe mich mit dieser Antwort ausnahmsweise nicht zufrieden und brülle zurück:

»Warum nicht, Weinreb? Warum nicht am Telefon? Warum gerade am Telefon nicht? Warum?«

»Ich habe meine Gründe«, lautet Weinrebs Auskunft.

»Was für Gründe, zum Teufel? Sagen Sie mir, welche Gründe Sie haben!«

»Nicht am Telefon.«

Es ist zum Verzweifeln. Aber was steckt dahinter? Eine allgemein grassierende Sicherheits-Hysterie? Eine tief verwurzelte jüdische Angst vor Provokateuren? Niemand weiß es. Wir wissen nur, daß jedesmal, wenn ein Israeli am Telefon auf Geld, Ziffern, Namen, Steuern, Kartenspiele, Zollvorschriften, Auslandsreisen oder dergleichen zu sprechen kommt, der andere Israeli sofort verstummt und mit den Worten »Bitte nicht am Telefon« das Gespräch abbricht.

Vielleicht liegt der Ursprung dieses nationalen Verhängnisses in grauer, biblischer Vorzeit, als von oben her die Stimme des Herrn ertönte: »Hast du nicht gegessen von dem Baum, davon ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?«

Adam aber antwortete und sprach: »Bitte nicht am Telefon!«

Vielleicht hat dieses erste Ferngespräch alles weitere verursacht bis auf den heutigen Tag.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DAS BERMUDA-DREIECK:

RADIO, FOTO, STEREO

 

 

 

 

 

PLX45L

Was mich betrifft, so gestehe ich offen, daß ich keine wie immer gearteten Neidkomplexe gegen irgendeine Gesellschaftsschicht, Kaste, Klasse oder Berufssparte in mir trage – außer natürlich gegen Politiker. Schließlich haben wir alle genügend eigene Sorgen und dazu auch noch etliche unserer Mitmenschen. Nachdem das geklärt ist, muß ich allerdings zugeben, daß immerhin eine kleine Gruppe von Leuten ein recht beneidenswertes Leben führt: die Amateurfunker. Sie formieren sich in kleinen Cliquen, irgendwo zwischen 1256 und 1270 Kilo-Hertz, und führen faszinierende Zwiegespräche, wie zum Beispiel das folgende:

»Hallo! Hallo! Hier spricht Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster Niagara. Ich rufe Mikro-2-Makro Intercom Rappaport. Ich wiederhole. (Und genau das tut er.) Bitte kommen. Bitte kommen. Hier spricht Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster Niagara, bitte sprechen!« Worauf einige Bips und Bups zu vernehmen sind, gefolgt von der Antwort:

»Hier spricht Mikro-2-Makro Intercom Rappaport. Wie geht’s, Fritzi? Kannst du mich gut hören? Mikro-2-Makro Intercom Rappaport Ende.«

»Hier spricht Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster Niagara. Ich kann dich gut verstehen, aber mir kommt vor, daß der Frequenz-Converter von deiner 3PLX Modulationseinheit eine leichte Rückkopplung hat. Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster Niagara Ende.«

Zu diesem Zeitpunkt wird die Stimme von Mikro-2-Makro brüchig und ist kaum noch zu verstehen:

»Hier spricht Mikro-2-Makro Intercom Rappaport. Danke für den Tip, Freund, ich habe den frontalen Sende-Entzerrer auf Impuls F-12 gestellt. Kannst du mich jetzt besser hören, Fritzi? Mikro-2-Makro Intercom Rappaport Ende.«

»Hier spricht Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster Niagara. Dein Zykloston ist nicht richtig zentriert. Außerdem glaube ich, daß dein Elektroden-Verwutzler überheizt ist. Weißt du was, ich komme mit dem Lötkolben runter. Gamma-0-Delta…«

Worauf Gamma-0-Delta eine Treppe hinuntereilt, wo ihn Mikro-2-Rappaport an der offenen Tür erwartet. Nachdem der Schaden behoben ist, begibt Fritzi sich wieder in das obere Stockwerk, setzt sich an seinen Elektroden-Verwutzler und beginnt wieder zu senden, Gamma-0-Delta Doppel-Zwölf Westminster. Das, liebe Freunde, sind die einzigen Menschen in der Welt, die ich wirklich beneide.

Die Massen und das Medium

An diesem folgenschweren Tag ging ich zeitig zu Bett, weil ich am Morgen schon um halb zehn aufstehen mußte. Es glückte mir, verhältnismäßig rasch einzuschlafen. Aber nach etwa einer Stunde wurde ich rüde geweckt.

»Wir wollen schlafen!« brüllte eine haßerfüllte Stimme.

»Es ist zehn Uhr vorbei. Stellen Sie das Radio ab, Sie Idiot!«

Ich setzte mich im Bett auf. Von fern, aus der äußersten Ecke unseres Häuserblocks, glaubte ich leise Musikklänge zu vernehmen. Ganz sicher war ich nicht, weil das zornig anschwellende Stimmengewirr alles übertönte:

»Wir wollen schlafen! Ruhe! Das Radio abdrehen! Ruhe!« Nach und nach erwachten auch die Bewohner der angrenzenden Häuser. In vielen Fenstern wurde es hell. Der Delikatessenhändler uns gegenüber formte aus seiner Zeitung einen Schalltrichter und verlangte Respekt vor der neuen Anti-Lärm-Verordnung. Der jemenitische Eisverkäufer Salah im Stockwerk unter uns stieß mehrmals den Namen Ben Gurion hervor, was bei ihm ein sicheres Zeichen hochgradiger Erregung ist. Ich selbst schlüpfte rasch in meinen Schlafrock, um mich besser hinausbeugen zu können. Ich liebe es über alles, Leute streiten zu sehen. Das ist ein menschlicher Zug von mir. »Ruhe!« brüllte ich in die Nacht hinaus. »Wo ist das Hauskomitee? Komitee!!«

Manfred Toscanini, den meine Leser bereits aus früheren Geschichten kennen und der mit dem gleichnamigen Dirigenten noch immer nicht verwandt ist, erschien auf dem Balkon seiner Wohnung und murmelte etwas Unverständliches. Manfred Toscanini ist Vorsitzender unseres Hausverwaltungskomitees. Aufmunternde Zurufe klangen ihm entgegen.

»Auf was warten Sie? Sind Sie der Vorsitzende des Komitees oder sind Sie es nicht? Rühr dich! Mach was! Rufen Sie die Polizei! Für diese Art von Ruhestörung gibt es heute bis zu einem Jahr Gefängnis! Los!«

»Einen Augenblick!« schrie Toscanini. »Wenn ihr so einen Lärm macht, kann ich ja gar nicht feststellen, wo der Lärm herkommt!«

Wir verstummten. Es zeigte sich, daß die Musik aus der rechten Eckwohnung im Parterre kam.

»Katzenmusik!« Das war Salah. Seine Stimme überschlug sich. »Sofort die Katzenmusik abstellen! Ben Gurion!« Toscanini stieg nervös von einem Fuß auf den andern. Er ist keine Kämpfernatur. Wir haben ihn nur gewählt, weil er eine schöne Handschrift hat und leicht zu behandeln ist.

»Bitte das Radio abstellen«, stammelte er. »Bitte. Wirklich.«

Nichts geschah. Die Musik strömte in unverminderter Stärke durch die laue Nacht.

Manfred Toscanini merkte, daß sein Prestige, sein Schicksal, seine Zukunft und das Glück seiner Kinder auf dem Spiel standen. Er hob die Stimme:

»Wenn diese Katzenmusik nicht sofort aufhört, rufe ich die Polizei.«

Einige Augenblicke atemloser Spannung folgten. Der Zusammenstoß zwischen Staatsgewalt und Rebellion schien bevorzustehen.

Plötzlich wurde die Musik noch lauter: die Tür der Wohnung, aus der sie kam, hatte sich geöffnet. Im Türrahmen erschien Dr. Nathaniel Birnbaum, Seniorchef der nahegelegenen Zweigstelle des Staatlichen Israelischen Reisebüros.

»Wer ist der Ignorant«, fragte Dr. Birnbaum mit volltönender Stimme, »der die Siebente von Beethoven als Katzenmusik bezeichnet?«

Stille. Tiefe, lautlose Stille. Beethovens Name schwebte zwischen den Häusern einher, drang den Bewohnern in Mark und Bein. Manfred Toscanini, das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse verzerrt, krümmte sich wie ein Wurm. Ich meinerseits trat einen Schritt vom Fenster zurück, um klarzustellen, daß ich mich mit seinem niveaulosen Verhalten in keiner Weise identifizierte.

Während all dieser Zeit blieb die himmlische Musik diskret hörbar. Dr. Birnbaum verabsäumte es nicht, seinen Sieg bis zur Neige auszukosten:

»Nun? Wo steckt der Analphabet? Für wen ist Beethovens Siebente eine Katzenmusik? Beethovens Siebente!« Verlegenes Räuspern. Beschämtes Husten. Schließlich flüsterte der schurkische Delikatessenhändler mit verstellter Stimme:

»Es war der Vorsitzende des Komitees .«

»Ich gratuliere!« Der Hohn in Dr. Birnbaums Stimme war nur zu berechtigt. »Ich gratuliere uns allen zu einem solchen Vorsitzenden!«

Damit drehte er sich um und verschwand gelassenen Schritts in seiner Wohnung. Eine schwer zu beschreibende Welle kultureller Überlegenheit ging von ihm aus. Kläglich und vereinsamt blieb Manfred Toscanini auf der Walstatt zurück, ein geschlagener Mann.

»Ich war so zornig«, sagte er entschuldigend, »ich war vor Wut so zornig, daß ich vor Zorn die Siebente von Beethoven nicht erkannt habe .«

»Pst!« zischte es von allen Seiten auf ihn los. »Ruhe! Mund halten! Man kann die herrliche Musik nicht hören!«

Mit gesenktem Kopf zog sich Manfred Toscanini in seinen Bau zurück. Wir anderen lauschten im Zustand völliger Verzauberung dem Titanenwerk jenes größten aller Musikgenies. Zahlreiche Hausbewohner streckten sich behutsam auf ihren Liegestühlen aus und schlossen die Augen, um sich den unsterblichen Klängen besser hingeben zu können. Und ich? Ich sah zum sternenbedeckten Himmel empor, und meine Lippen formten leise und demütig ein einziges Wort: »Beethoven.«

Nur der Jemenite Salah und sein Weib Etroga störten die weihevolle Stille mit ihrem Getuschel.

»Wer ist das?« fragte Etroga.

»Wer ist wer?«

»Dieser Herr… wie heißt er nur… Betovi…«

»Ich weiß nicht.«

»Muß ein wichtiger Mann sein, wenn alle solche Angst vor ihm haben.«

»Ben Gurion«, sagte Salah. »Ben Gurion.«

»Und warum hast du geschrien, wenn du nichts weißt?«

»Alle haben geschrien.«

»Alle dürfen. Du darfst nicht. Deine Verkaufslizenz ist nicht in Ordnung. Hast du vergessen, was deinem Freund Shimuni passiert ist, weil er sein großes Maul zu weit aufgerissen hat?«

Salah schlotterte vor Angst.

»Herrlich!« rief er so laut, daß jeder es hören konnte.

»Eine herrliche Musik!«

Uri, der Sohn des Apothekers, den die plötzliche Stille geweckt hatte, kam auf dem Balkon gestürzt und zeterte: »Katzenmusik!«

Er bekam von seinem Papa sofort eine Ohrfeige, was allgemeine Billigung fand. Ein Kind, dem man nicht schon im zarten Alter den nötigen Respekt für die großen Kunstschöpfungen beibringt, kann niemals ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden und endet am Galgen.

Der Professor in der Wohnung rechts von uns, der seit dem letzten Streit mit seiner Frau, also seit ungefähr vierzig Jahren, kein Wort mehr mit ihr gesprochen hatte, stand jetzt friedlich neben ihr am Fenster. Beethovens Himmelsmusik hatte die entzweiten Ehepartner wieder vereint.

Im Bestreben, seine Blamage gutzumachen, summte Manfred Toscanini demonstrativ ein paar Takte mit. Aber seine schamlose Unterwürfigkeit ging noch weiter.

»Doktor Birnbaum!« rief er. »Bitte drehen Sie den Apparat noch ein wenig stärker auf! Man kann von hier aus nicht so gut hören . Danke vielmals!«

Die Musik war lauter geworden. Wie eine große, glückliche Familie saßen die Hausbewohner beisammen und lauschten. Wir alle liebten einander.

»Gigantisch, dieses Rondo«, flüsterte der Apotheker, dessen ältester Sohn Harmonika-Unterricht nahm.

»Obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob es nicht vielleicht ein Scherzo ist .«

Der Delikatessenhändler äußerte einige verächtliche Worte über gewisse Zeitgenossen, die zwischen einem Rondo und einem Scherzo nicht unterscheiden können.

Die Gattin des Professors flüsterte mehrmals hintereinander: »A-Dur… A-Dur …«

Salah beugte sich weit aus dem Fenster und legte beide Hände an die Ohren.

Ich schlug verstohlen meinen »Konzertführer« auf und suchte nach der Siebenten von Beethoven. Der »Konzertführer« ist ein handliches Büchlein, das man mühelos vor den Blicken Neugieriger verbergen kann.

»Bekanntlich«, so ließ ich mich vernehmen, »gehört die Symphonie in A-Dur zu Beethovens gewaltigsten Meisterwerken. Die einleitenden Akkorde werden in verschiedenen Variationen wiederholt, ehe sie in das Hauptthema des ersten Satzes übergehen. Moderne Kritiker finden an dieser Exposition etwas auszusetzen…«

Mein Ansehen unter den Hausbewohnern stieg sprunghaft, ich fühlte das ganz deutlich. Bisher, wohl irregeführt durch mein übertrieben bescheidenes Wesen, hatten sie mich nicht richtig eingeschätzt. Um so zündender wirkte jetzt das Feuerwerk meiner profunden Musikalität. Die Gärtnerstochter von gegenüber schickte ihren kleinen Bruder zu mir und ließ fragen, ob ich ihr nicht mein Opernglas leihen könnte.

In einem lendenlahmen Versuch, mir zu widersprechen, sagte der Apotheker:

»Die Exposition ist vollkommen in Ordnung. Auch ein Bartok hätte sie nicht anders aufbauen können.«

Gleich bei seinen ersten Worten hatte ich eilig in meinem »Konzertführer« zu blättern begonnen.

»Vergessen Sie nicht«, hielt ich dem wichtigtuerischen Tölpel jetzt entgegen, »daß der vierte Satz sich zu unwiderstehlicher Rasanz emporschwingt und besonders im Finale alle irdischen Maße sprengt!«

Der ganze Häuserblock lag mir zu Füßen. Beethovens Genius und meine eigene Brillanz flossen zu sphärischer Einheit zusammen. So stellte ich mir das Nirwana vor.

»Auch Bach ist nicht schlecht«, brummte der Apotheker und hoffte damit sein Gesicht zu wahren. Die Musik kam noch einmal auf das Hauptthema zurück. Bläser und Streicher entfalteten sich in einer letzten, vollen Harmonie, ehe die unsterblichen Klänge endgültig verschwebten. Ein Seufzer namenlosen Entzückens entrang sich den Lippen der Zuhörer. Augenblicke einer nahezu heiligen Stille folgten. Dann meldete sich der Ansager:

»Sie hörten die Suite >An den Mauern von Naharia< von Jochanan Stockler, gespielt von der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Petach Tikwah. Im zweiten Teil unseres Abendkonzertes bringen wir klassische Musik auf Schallplatten. Als erstes hören Sie Beethovens Siebente Symphonie in A- Dur.«

Abermals Stille. Unheilschwangere Stille. Manfred Toscaninis Gestalt wurde im Fensterrahmen sichtbar und schien gespenstisch über sich hinauszuwachsen.

»Katzenmusik!« röhrte er, besessenen Triumph in der Stimme. »Hören Sie mich, Birnbaum, Katzenmusik! He, Birnbaum! Das nennen Sie Beethoven? Ich nenne es Katzenmusik!«

Die Empörung griff unter den Hausbewohnern um sich wie ein Waldbrand.

»Beethoven!« kreischte die Gattin des Professors und eilte zu einem anderen Fenster. »Was jetzt Birnbaum?«

Der Jemenite Salah packte sein Weib am Arm: »Sie haben uns betrogen!« zischte er. »Wieder einer von ihren schäbigen Tricks!«

»Wenn die Polizei kommt, dann haben wir nichts gesehen«, schärfte ihm seine Gattin ein. »Ben Gurion«, sagte der Jemenite Salah.

Sollte Dr. Birmbaum in seiner lächerlichen Überheblichkeit einem guten Ratschlag noch zugänglich sein, dann sucht er sich eine andere Wohnung. Bei uns hat er ausgespielt.

Bildhaft gesprochen

Rundfunkgeräte senden aber nicht nur Musik, sondern auch Hörspiele. Auch ich produziere manchmal welche, vor allem als Demonstration gegen den siegestrunkenen Großen Bruder Fernsehen. Aber es ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Wo die Schwierigkeiten liegen?

Ganz einfach: während man auf der Bühne oder im Fernsehen auf den ersten Blick feststellen kann, wo und wie die Handlung abläuft, wer da mitspielt, wie die Leute aussehen und wie alt sie sein sollen, tappt der Hörer bei einer so veralteten Medienart wie dem Hörspiel im Dunkel der Ätherwellen. Wie also kann der Hörer von den äußeren Details in Kenntnis gesetzt werden? Hier ein Beispiel:

»… und nun senden wir unser Hörspiel >Endstation Bienenkorb<« (Musik, lautes Klopfen, noch sind wir in Ungewißheit) Dröhnende Männerstimme (gehört dem Mann, der klopft): »Mischa, Mischa, darf ich in deine geschmackvoll eingerichtete Dreizimmerwohnung eintreten?«

Leise Männerstimme: »Mischa Armansky würde nie die Türe vor dem Bruder seines Vaters verschließen, selbst wenn es kurz vor Mitternacht wäre.« (Quietschen einer Türe, die geöffnet wird. Wir hören, daß draußen ein Sturm tobt. Dazu einige Donnerschläge, falls jemand den Sturm überhört haben sollte.) Dröhnende Männerstimme (schließt die Tür mit obligatem Quietschen): »Schrecklich der Sturm da draußen.«

(Diese Zeile hat der Regisseur eingefügt, um auf Nummer Sicher zu gehen.) »Ich bin überzeugt, daß dieser Tag, der 10. November 1934, in die Geschichte der Meteorologie eingehen wird. Fürwahr, ich will nicht Mosche Armansky heißen und Orangenplantagenbewässerer sein, wenn ich in meinen dreiundsechzig Lebensjahren ein solches Wetter erlebt habe.«

Leise Männerstimme: »Auch ich, wenn auch in Tucson, Arizona, geboren, als stämmiger Dreißiger mit meiner sechsjährigen Universitätsausbildung und derzeit Besitzer einer drei Hektar großen Hühnerfarm nahe der syrischen Grenze, wo ich nebenbei Spinat anbaue, kann mich nicht erinnern, je so ein Wetter erlebt zu haben.«

Weibliche Stimme (tritt auf, Türquietschen, Zuschlagen):

»Guten Abend, Onkel Moses. Erinnerst du dich nicht an mich? Ich bin Bella, Mischas leichtlebige Gattin, im achten Monat schwanger.«

Dröhnende Männerstimme: »Natürlich erinnere ich mich an dich. Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist noch immer die kleine, dicke Bella mit den slawischen Gesichtszügen, den blauen Augen, der kecken Nase und dem langem schwarzen Haar. Du siehst sehr hübsch aus in deinem braunen Pullover und dem buntgemusterten Schottenrock. Ich kann nur hoffen, daß du dir dein musikalisches Talent sowie deine Begabung für Fremdsprachen erhalten hast.«

Leise Männerstimme: »Oja, das ist ihr gelungen, obwohl wir schon acht Jahre verheiratet sind und zwei Knaben und drei Mädchen haben, die alle hier in unserem kleinen Dorf Kiriath Epstein, gegründet 1923, zur Schule gehen.«

Dröhnende Männerstimme: »Übrigens, ich trage eine Brille. Ist jetzt alles klar? Gut, dann können wir mit der Handlung beginnen. Aber rasch, wir haben nur mehr 3 Minuten …«

Hit muß man schreiben können

Wir alle kennen die Namen der Koryphäen, die allwöchentlich die Radiohitparade anführen. Aber haben wir auch eine richtige Vorstellung von der unendlichen Mühe und Arbeit, die sie dorthin gebracht hat? Wir haben keine richtige Vorstellung. Daher die Kulturkrise.

Sie begann vor einigen Jahren, als der Rundfunksender der israelischen Armee eine Publikumsbefragung veranstaltete, die über den populärsten Schlager der Woche entscheiden sollte. Die Rundfunkhörer wurden aufgefordert, ihren Favoriten auf einer Postkarte namhaft zu machen und diese einzusenden. So einfach war das. Ein begabter junger Komponist namens Gideon Wiesel wurde daraufhin von einer genialen Inspiration überkommen. Er setzte sich ans Klavier, klappte den Deckel zu und schrieb 23 Postkarten, im Stil ein wenig verschieden, aber jede mit dem Titel seines letzten Schlagers versehen. »Schließlich bin ja auch ich ein Rundfunkhörer«, sagte er sich. »Also habe ich das Recht, an der Abstimmung teilzunehmen.«

Zu seiner maßlosen Enttäuschung erreichte der von ihm sowohl komponierte als auch genannte Schlager nicht den ersten Platz. Der erste Platz ging an die ebenfalls junge und begabte Ruthi Ron, die mit Hilfe ihrer Eltern, ihres Schwagers, des Telefonbuchs und eines untrüglichen musikalischen Instinkts insgesamt 88 Postkarten abgeschickt hatte, mit dem Ergebnis, daß ihre jüngste Platte sich wie warme Semmeln verkaufte.

An diesem Punkt betrat der international bekannte Impresario Emil Jehuda Beltzer die Szene.

»Wir dürfen das Feld nicht länger den Amateuren überlassen«, wandte er sich an seinen Lakai, den Dichter Tola’at Shani. »Es wird Zeit, daß wir Profis ins Hitparade-Geschäft einsteigen.«

Das gesamte Personal der Firma Beltzer, bestehend aus Tola’at Shani, drei Sekretärinnen und dem Laufburschen Tuval, trat in Aktion und legte einen Index aller erreichbaren Rundfunkhörer sowie einen Vorrat von Kugelschreibern, Federn, Tinte, Bleistiften und Farbbändern an. Ein Gremium geschulter Psychologen verfaßte die nötigen Texte, die von Tuval in einer Mischung aus kindlicher Handschrift und eingeborenem Niveau verwertet wurden. Hier ein Muster:

»Ich glaube, das ich daß schöne Lied >Küß mich, Mammi< von Tola’at Shani für daß schönste Lied halte und es gehöhrt auf den ersten und zweiten und driten Platz. Hochachtungsvoll Uzzi Porat, Schüler, Tel Aviv.«

Binnen kurzem erreichte der Stab der Firma Beltzer den imposanten Ausstoß von 135 Postkarten pro Stunde. Tuval bekam eine Gehaltserhöhung, und Tola’at Shani bekam die Goldene Schallplatte, was dem von ihm textierten Schlager eine Verkaufsziffer von mehr als 50.000 Exemplaren einbrachte. Der Minister für Unterricht und Volksbildung eröffnete die feierliche Preisverteilung und stellte in seiner Ansprache fest, daß »der einfache Mann auf der Straße durch sein Postkarten-Votum die künstlerisch-folkloristischen Werte unserer heimischen Produktion richtig erkannt und beurteilt hat«. Tola’at Shani vergoß Tränen des Glücks und umarmte seinen Partner, den Komponisten Mordechai Schulchan, mehrmals vor mehreren Kameras. Das Team hielt lange Zeit die Spitze. Seine Hauptrivalen, Gideon Wiesel und der begabte Textdichter Gogo, kamen niemals über 6000 Postkarten hinaus. Zum Teil lag das an ihrer minderwertigen Propagandatechnik, zum Teil an internen Streitigkeiten. Jeder bezichtigte den anderen der Zeitvergeudung und warf ihm vor, Songs statt Postkarten zu schreiben. Eines Abends attackierten die beiden den berühmten Popsänger Gershon Schulz in einem Café auf der Dizengoffstraße und verlangten von ihm, daß auch er sein Teil zum gemeinsamen Ringen um den Erfolg beitragen solle:

»Du verdienst ja ganz schön an unseren Platten, oder nicht? Da könntest du dich wenigstens mit hundert schäbigen Postkarten wöchentlich beteiligen!«

Schulz berief sich auf seine untaugliche Handschrift und behauptete, daß es ausschließlich Sache der Komponisten und Textdichter sei, Postkarten zu schreiben.

»So? Wer sagt das?« begehrten Wiesel & Gogo zu wissen.

Es stellte sich heraus, daß niemand etwas dergleichen gesagt, festgelegt, stipuliert oder vorgeschrieben hatte. Die Rundfunkstation hatte keine Regeln verlautbart und nirgends angegeben, ob die Abstimmungskarten von Komponisten, Textern oder Sängern kommen sollten. Die Beendigung dieses anarchischen Zustands schien um so dringlicher geboten, als der Zweite Kanal eine eigene Postkarten-Parade ankündigte, wobei jede Karte aus Registrationsgründen zweifach auszufertigen war. Der Verkauf von Briefmarken und Telefonbüchern stieg sprunghaft.

Als die Namensreserven des Telefonbuchs erschöpft waren, wandte man sich dem reichen Quellenmaterial der Bibel zu. Ein pfiffiger Tonsetzer ging so weit, ein Exemplar von »Archipel Gulag« käuflich zu erwerben und schob sich mit Einsendern wie Sergej Vavilov (Haifa) oder Michail Dimitrewitsch Krapotkin (Ramat-Gan) auf den fünften Platz vor.

Damit nicht genug, nahm eine neugegründete »Top-Pop-GmbH« den Betrieb auf. Ihre Reklameslogans lauteten: »Unser Schall fördert die Platte!« und »Mit Top-Pop zum Pop-Top«. Anstelle der bisherigen zeitraubenden Geschäftsmethoden verwendete die Firma einen hochorganisierten Computer, der jede Adresse auf ihre geographische Authentizität und jeden Text auf seine Glaubhaftigkeit prüfte, ehe die Karten nach Postleitzahlen gestapelt und ihr Versand in praktisch unbegrenztem Umfang aufgenommen wurde. »Erfolg garantiert!« hieß es im Prospekt. »Sondergebühren für Jahresabonnenten, Studenten und Militär.«

Die Rationalisierung des Kunstbetriebs in den Sendeanstalten hatte einen neuen, gewaltigen Schritt nach vorne getan. Fortan blieb es unseren ausübenden Künstlern erspart, ihr Talent und ihren Erfindungsgeist von so altmodischen Arbeitsprozessen wie dem Anfeuchten von Briefmarken behindern zu lassen.